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Gabrielle befand sich nun schon mehr als drei Stunden auf der Polizeiwache und hatte die ganze Zeit versucht, das Grauen zu schildern, das sie beim La Notte beobachtet hatte. Die beiden Polizisten, mit denen sie sprach, waren zuerst skeptisch gewesen, nun wurden sie allmählich ungeduldig, fast feindselig. Bald nachdem sie auf die Wache gekommen war, hatten die Polizisten einen Streifenwagen zum Club geschickt, der den angeblichen Tatort überprüfen und den Leichnam, den Gabrielle gesehen haben wollte, bergen sollte. Die Fahrt hatte nichts ergeben. Keine Berichte über eine Auseinandersetzung einer Gang und nicht die Spur eines Beweises, dass irgendjemand ein Verbrechen beobachtet hatte. Es war, als sei der gesamte Vorfall niemals geschehen – oder als sei der Tatort auf beinahe wundersame Weise gründlich aufgeräumt worden.

„Wenn Sie mir nur zuhören würden … wenn Sie sich nur die Bilder ansehen würden, die ich gemacht habe …“

„Wir haben sie gesehen, Miss Maxwell. Bereits mehrere Male. Offen gesagt, nichts von dem, was Sie heute Nacht erzählt haben, lässt sich bestätigen – nicht Ihre Aussage, und auch nicht diese grobkörnigen, schwer zu erkennenden Fotos auf Ihrem Mobiltelefon.“

„Es tut mir leid, wenn die Qualität mangelhaft ist“, erwiderte Gabrielle, sich ihres bissigen Tonfalls sehr wohl bewusst. „Das nächste Mal, wenn ich Zeugin eines blutigen Gemetzels durch eine Bande Psychos werde, werde ich daran denken, meine Leica und einige Extraobjektive mitzubringen.“

„Vielleicht möchten Sie Ihre Aussage noch einmal überdenken“, schlug der ältere der beiden Polizisten vor. In seiner Bostoner Sprechweise war ein leichter irischer Akzent zu erkennen, was auf eine in South Boston verbrachte Jugend hindeutete. Er strich mit einer dicklichen Hand über seinen zurückweichenden Haaransatz und schob Gabrielle ihr Handy über den Tisch hinweg zu. „Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass eine falsche Zeugenaussage ein Verbrechen ist, Miss Maxwell.“

„Das hier ist keine falsche Zeugenaussage“, beharrte sie. Sie war frustriert und wütend, dass sie hier wie eine Verbrecherin behandelt wurde. „Ich stehe zu allem, was ich heute Nacht gesagt habe. Warum sollte ich mir das ausdenken?“

„Das ist eine Frage, die nur Sie beantworten können, Miss Maxwell.“

„Das ist unglaublich. Sie haben meinen Notruf vorliegen …“

„Ja“, stimmte der Polizist zu. „Sie haben in der Tat die Notrufnummer gewählt. Leider ist alles, was wir haben, ein Rauschen auf dem Band. Sie haben nichts gesagt und nicht auf das Ansuchen um Informationen geantwortet.“

„Tja, es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, wie jemandem die Kehle herausgerissen wird.“

Er warf ihr erneut einen zweifelnden Blick zu. „Dieser Club – La Notte? Ich habe gehört, das soll ein wilder Laden sein. Beliebt in der Gothicszene, bei den Ravern …“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Viele Kids geraten heutzutage in seltsamste Kreise, machen die merkwürdigsten Dinge. Vielleicht war das, was Sie gesehen haben, nur ein bisschen Spaß, der außer Kontrolle geraten ist.“

Gabrielle stieß einen Fluch aus und griff nach ihrem Handy. „Sieht das für Sie aus, als ob ein bisschen Spaß außer Kontrolle geriete?“

Sie rief wieder das Fotomenü auf und sah sich erneut die Bilder an, die sie aufgenommen hatte. Obwohl die Schnappschüsse wegen des Blitzes unscharf waren, konnte sie dennoch deutlich eine Gruppe von Männern erkennen, die einen anderen umringten, der auf dem Boden lag. Sie klickte weiter, zu einem neuen Bild, und sah das reflektierende Glühen von mehreren Augen, die ins Objektiv starrten, die vagen Konturen der Gesichtszüge in animalischer Wildheit verzerrt.

Warum sahen die Polizisten nicht das, was sie sah?

„Miss Maxwell“, warf der jüngere Polizeibeamte ein. Er schlenderte zu der anderen Seite des Schreibtisches und setzte sich vor ihr auf den Rand. Er war bisher der ruhigere der beiden Männer gewesen, derjenige, der zugehört und reiflich überlegt hatte, während sein Partner sie seinen Zweifel und sein Misstrauen überdeutlich hatte spüren lassen. „Es ist offensichtlich, dass Sie glauben, heute Abend bei dem Club etwas Schreckliches gesehen zu haben. Officer Carrigan und ich möchten Ihnen helfen, aber vorher müssen wir uns sicher sein, dass wir alle von den gleichen Fakten ausgehen.“

Sie nickte. „Okay.“

„Nun, wir haben Ihre Aussage, und wir haben Ihre Bilder gesehen. Sie scheinen mir eine vernünftige Frau zu sein. Bevor wir dies hier heute Nacht weiterverfolgen können, muss ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, sich einem Drogentest zu unterziehen.“

„Ein Drogentest.“ Gabrielle sprang von ihrem Stuhl auf. Mittlerweile war sie mehr als wütend. „Das ist lächerlich! Ich bin kein Junkie auf einem Trip, und ich finde es unverschämt, dass ich wie einer behandelt werde. Ich versuche hier einen Mord zu melden!“

„Gabby? Gabrielle?“

Irgendwo hinter sich hörte Gabrielle Jamies Stimme. Sie hatte ihn angerufen, kurz nachdem sie hier angekommen war, da sie das Bedürfnis hatte, sich nach dem Horror, den sie erlebt hatte, von einem Freund trösten zu lassen.

„Gabrielle!“ Jamie stürmte zu ihr und nahm sie in den Arm. „Tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte, aber ich war schon zu Hause, als ich deine Nachricht bekommen habe. Meine Süße! Bist du in Ordnung?“

Gabrielle nickte. „Ich glaube schon. Danke, dass du gekommen bist.“

„Miss Maxwell, warum lassen Sie sich nicht von Ihrem Freund hier nach Hause bringen?“, schlug der jüngere Polizist vor. „Wir können ein anderes Mal weitermachen. Vielleicht können Sie klarer denken, wenn Sie ein bisschen geschlafen haben.“

Die beiden Polizeibeamten standen auf und gaben Gabrielle zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Sie widersprach nicht. Ja, sie war müde, zutiefst erschöpft, und sie hatte nicht das Gefühl, dass sie imstande wäre, die Polizisten von dem zu überzeugen, was sie vor dem La Notte erlebt hatte, selbst wenn sie die ganze Nacht auf der Polizeiwache bliebe. Benommen ließ Gabrielle es zu, dass Jamie und die beiden Polizisten sie aus der Wache begleiteten. Sie war die Stufen zum Parkplatz schon halb hinuntergestiegen, als der jüngere der beiden Männer ihren Namen rief.

„Miss Maxwell?“

Sie blieb stehen und blickte über die Schulter zurück zu dem Polizisten, der vor der hell erleuchteten Polizeiwache stand.

„Wenn Sie dann besser schlafen können, schicken wir jemanden, der bei Ihnen zu Hause alles überprüft und vielleicht noch mal mit Ihnen redet, wenn Sie ein bisschen Zeit hatten, noch einmal über Ihren Bericht nachzudenken.“

Ihr gefiel sein jovialer Tonfall nicht, aber es gelang ihr auch nicht, den Zorn wieder heraufzubeschwören, den sie gebraucht hätte, um sein Angebot abzulehnen. Nach dem, was sie heute Nacht gesehen hatte, wäre es ihr sogar sehr recht, wenn ein Polizist zu ihr nach Hause käme – selbst wenn er sie von oben herab behandeln, ihr nicht unbedingt glauben würde. Sie nickte und folgte dann Jamie hinaus zu seinem wartenden Wagen.

An einem Schreibtisch in einer stillen Ecke des ehrwürdigen Gemäuers drückte ein Büroangestellter die Drucken-Taste an seinem Computer. Ein Laserdrucker schaltete sich hinter ihm surrend ein und spuckte eine einzelne Seite mit einem Bericht aus. Der Angestellte trank den letzten Schluck des kalten Kaffees aus seinem angeschlagenen Red Sox-Becher, erhob sich von seinem wackeligen, mit bunter Dichtungsmasse reparierten Stuhl und nahm beiläufig das Dokument aus dem Drucker.

Die Polizeiwache war ruhig, die Pause der Mitternachtsschicht hatte gerade begonnen. Aber selbst wenn hier geschäftiges Treiben geherrscht hätte, hätte niemand dem zurückhaltenden, unbeholfenen Praktikanten, der sich immer etwas abseits hielt, Beachtung geschenkt.

Das war das Schöne an seiner Rolle.

Das war der Grund, warum er ausgewählt worden war.