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„Pst“, erwiderte Kendra und hob den Finger an die Lippen, während sie den Kopf schüttelte. „Nicht mehr reden. Wir müssen jetzt gehen.“

Als Kendra nach ihr griff, zuckte Gabrielle zurück. Sie dachte an den Dolch in ihrer Handtasche und fragte sich, ob sie die Klinge herausholen konnte, ohne dass Kendra es bemerkte. Und falls sie es konnte, wäre sie dann wohl in der Lage, sie gegen ihre Freundin einzusetzen?

„Fass mich nicht an“, sagte sie und bewegte ihre Finger langsam unter die Lederklappe ihrer Tasche. „Ich gehe mit dir nirgendwohin.“

Kendra fletschte die Zähne – eine schreckliche Parodie eines Lächelns. „Oh, ich denke, das solltest du aber tun, Gabby. Schließlich hängt Jamies Leben davon ab.“

Kalte Furcht durchdrang Gabrielles Herz. „Was?“

Kendra drehte den Kopf in Richtung der wartenden Limousine. Ein getöntes Seitenfenster glitt herunter, und da saß Jamie auf dem Rücksitz zwischen zwei riesigen Schlägertypen.

„Gabrielle?“, rief er aus, und in seinen Augen war Panik zu erkennen.

„Oh nein. Nicht Jamie. Kendra, bitte lass es nicht zu, dass ihm jemand etwas tut.“

„Das liegt ganz in deiner Hand“, entgegnete Kendra höflich. Sie nahm Gabrielle ihre Handtasche aus der Hand. „Du wirst hier nichts brauchen.“

Sie forderte Gabrielle durch einen Wink auf, zu dem im Leerlauf haltenden Wagen voranzugehen. „Sollen wir?“

Lucan legte zwei C4-Päckchen unter die riesigen Warmwasserbereiter in dem Kesselraum der Nervenheilanstalt. Dahinter kauernd, platzierte er den elektronischen Zünder und sprach dann in sein Mikro, um Bericht zu erstatten.

„Der Kesselraum kann abgehakt werden“, teilte er Niko am anderen Ende mit. „Ich habe noch drei weitere Einheiten zu legen und dann bin ich hier weg …“

Er erstarrte, als er draußen vor der geschlossenen Tür schlurfende Schritte hörte.

„Lucan?“

„Scheiße. Ich bekomme Besuch“, murmelte er leise, während er seinen Platz verließ und in die Nähe der Tür schlich, um sich auf den Angriff vorzubereiten.

Er legte seine behandschuhte Hand um den Griff einer gefährlichen, gezackten Stichwaffe, die in einer an seinem Oberkörper befestigten Scheide steckte. Zwar hatte er auch eine Schusswaffe dabei, aber sie waren sich alle einig gewesen, dass bei dieser Mission keine Feuerwaffen benutzt werden sollten. Es war nicht nötig, dass die Rogues etwas von ihrer Anwesenheit mitbekamen, und da Niko draußen die Hauptleitung manipulierte und Gas ins Gebäude strömen ließ, war die Gefahr groß, dass durch den Funken einer abgefeuerten Kugel der ganze Laden vorzeitig in die Luft ging –

Der Türknauf des Kesselraumes wurde gedreht.

Lucan nahm den Gestank eines Rogue und den unverkennbaren Kupfergeruch von menschlichem Blut wahr. Gedämpftes animalisches Grunzen vermischte sich mit dem feuchten Schmatzen und dem schwachen Wimmern eines Opfers, das ausgetrunken wurde. Die Tür öffnete sich und ließ einen Schwall fauliger Luft herein, als der Rogue begann, sein sterbendes Spielzeug in die dunkle Nische zu zerren.

Lucan wartete hinter der Tür, bis sich der große Kopf des Rogue direkt vor ihm befand. Das Arschloch war zu sehr mit seiner Beute beschäftigt, um die Bedrohung zu bemerken. Lucan stieß hart mit seiner Hand nach oben und vergrub die Klinge in dem Brustkorb des Rogue. Er brüllte auf. Der riesige Kiefer öffnete sich weit, und gelbe Augen traten hervor, als das Titan durch sein Blutsystem schoss.

Der Mensch sackte zu Boden und verkrampfte sich im Todeskampf, während der Rogue, der von ihm getrunken hatte, zu zischen und sich zu schütteln begann. Es bildeten sich Blasen, als wäre er mit Säure übergossen worden.

Kaum war er zusammengebrochen und hatte sich aufgelöst, als auch schon ein weiterer Rogue durch den Gang gestampft kam. Lucan sprang auf, um sich dem neuen Angriff zu stellen, aber bevor er den ersten Stoß landen konnte, wurde das Arschloch von hinten von einem schwarz gekleideten Arm von den Beinen gerissen.

Eine scharfe Klinge blitzte auf, wurde quer über die Kehle des Rogue gezogen und trennte den großen Kopf mit einem sauberen Schnitt vom Körper.

Der riesige Körper fiel wie Müll auf den Boden. Tegan stand da, von seiner Klinge tropfte Blut, und seine grünen Augen waren ganz ruhig. Er war eine Tötungsmaschine, und der grimmige Ausdruck seines Mundes schien sein Versprechen von vorhin zu wiederholen, dass Tegan, sollte die Blutgier je die Oberhand über Lucan gewinnen, sicherstellen würde, dass Lucan selbst den Zorn des Titans zu spüren bekommen würde.

Wenn er den Krieger jetzt ansah, hatte Lucan keinen Zweifel daran, dass, sollte Tegan je kommen, um ihn zu töten, es für ihn vorbei sein würde, bevor er überhaupt wusste, dass sich der Vampir im Raum befand.

Er erwiderte diesen kühlen, tödlichen Blick und nickte zum Zeichen seiner Dankbarkeit.

„Sprich mit mir“, drang Nikos Stimme Lucan ins Ohr. „Alles okay da drin?“

„Ja. Die Luft ist rein.“ Er säuberte seinen Dolch an dem Hemd des Menschen und steckte ihn dann wieder in die Scheide. Als er aufblickte, war Tegan bereits verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst wie der Geist des Todes, der er war.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg zu den nördlichen Eingängen, um den Rest der Mitbringsel anzubringen“, teilte er Nikolai mit, während er den Kesselraum verließ und in einem leeren Gangabschnitt verschwand.

32

„Gabrielle, was ist los? Was stimmt nicht mit Kendra? Sie ist zur Galerie gekommen und hat zu mir gesagt, dass du einen Unfall gehabt hättest und dass ich sofort mitkommen sollte. Warum hat sie gelogen?“

Gabrielle wusste nicht, wie sie Jamies besorgte Fragen im Flüsterton beantworten sollte. Er saß neben ihr auf dem Rücksitz der Limousine. Sie rasten weg von Beacon Hill und fuhren auf die Innenstadt zu. Die Wolkenkratzer des Bankenviertels ragten vor ihnen in der Dunkelheit auf, und das Licht aus Bürofenstern funkelte wie Christbaumkugeln. Kendra saß auf dem Vordersitz neben dem Fahrer, einem stiernackigen Rausschmeißertypen mit Sonnenbrille und in dem dunklen Anzug eines Gangsters.

Gabrielle und Jamie hatten hinten ähnliche Begleiter, die sie auf eine Seite der glatten Lederbank drängten. Gabrielle hatte nicht den Eindruck, dass es sich bei ihnen um Rogues handelte. Sie schienen hinter ihren geschlossenen Lippen keine riesigen Fangzähne zu verstecken, und das wenige, das sie über die tödlichen Feinde des Stammes wusste, sagte ihr, dass sie oder Jamie keine Minute überstanden hätten, ohne dass ihnen die Gurgel herausgerissen worden wäre, wenn es sich bei den beiden Männern tatsächlich um blutsüchtige Rogues handelte.

Dann waren es also Lakaien, folgerte sie. Menschliche Bewusstseinssklaven eines mächtigen Vampirmeisters.

So wie Kendra.

„Was werden sie mit uns machen, Gabby?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Sie griff hinüber und drückte Jamies Hand. Auch sie sprach leise, aber sie wusste, dass ihre Entführer jedem Wort lauschten. „Aber alles wird wieder gut. Ich verspreche es dir.“

Sie mussten aus dem Wagen gelangen, bevor sie ihr Ziel erreichten, so viel wusste sie. Das war die grundlegende Regel der Selbstverteidigung: sich niemals zu einem anderen Ort bringen lassen. Denn dann befand man sich im Revier des Angreifers.

Und die Chancen zu überleben, würden gen null sinken.

Sie warf einen Blick auf den Hebel an der Schiebetür neben Jamie. Er beobachtete ihre Augen und zog fragend eine Braue hoch, als sie erst ihn und dann wieder den Türhebel anstarrte. Dann verstand er. Er nickte ihr fast unmerklich zu.

Aber ausgerechnet als er seine Hände zum Hebel bewegte, um die Tür zu öffnen, drehte sich Kendra zu ihnen um und machte sich über sie lustig. „Wir sind fast da, Kinder. Seid ihr aufgeregt? Ich bin es jedenfalls. Ich kann es nicht erwarten, bis mein Meister dich endlich leibhaftig kennenlernt, Gabby. Hm, hmm! Er wird dich einfach verschlingen.“