Gideon drehte sich auf dem Vordersitz um. „Meinst du, es ist der Gen-Eins-Angehörige von der Westküste, der die Rogues anführt?“
„Da bin ich mir sicher“, antwortete Lucan. „Er war heute Nacht in dem Hubschrauber auf dem Dach, wo er Gabrielle festgehalten hat.“ Er streichelte ihren Arm zärtlich und hielt dann inne, um sie anzusehen, so als ob ihr bloßer Anblick ihn beruhigte. „Und der Mistkerl ist kein Rogue – jetzt nicht, und vielleicht war er das auch nie. Irgendwann war er ein Krieger wie wir. Sein Name ist Marek.“
Gabrielle spürte einen kalten Hauch aus der dritten Sitzreihe des Geländewagens und wusste, dass Tegan Lucan nun ansah.
Lucan wusste es ebenfalls. Er drehte den Kopf, um dem starren Blick des anderen Kriegers zu begegnen. „Marek ist mein Bruder.“
34
Die Bedeutung von Lucans Worten hallte in ihnen nach, als sie aus dem Fahrzeug ausstiegen und den Fahrstuhl im Flottenhangar nahmen, um zum Quartier hinunterzufahren. Auf der Fahrt verschränkte die neben Lucan stehende Gabrielle ihre Finger mit seinen. Schock und Mitgefühl ergriffen ihr Herz, und als er zu ihr hinüberblickte, wusste sie, dass er die Besorgnis in ihren Augen lesen konnte.
Gabrielle sah ähnlich besorgte Blicke auch in den Augen von Lucans Kriegerbrüdern, eine unausgesprochene Bestätigung dessen, was diese Entdeckung bedeutete.
Irgendwann würde Lucan in die Situation kommen, seinen eigenen Bruder töten zu müssen.
Oder von ihm getötet zu werden.
Gabrielle hatte kaum eine Möglichkeit, diese schreckliche Neuigkeit zu verarbeiten, als sich schon die Fahrstuhltüren öffneten. Davor standen Savannah und Danika, die sehnsüchtig auf die Rückkehr der Krieger gewartet hatten. Es folgten eine erleichterte Begrüßung, Dutzende von Fragen über das Ergebnis der nächtlichen Mission, ebenso die besorgte Nachfrage, was um alles in der Welt Gabrielle dazu gebracht hatte, das Gelände zu verlassen, ohne ein Wort zu irgendjemandem zu sagen. Gabrielle war zu müde, um darauf zu antworten; zu erschöpft von der ganzen Tortur des heutigen Tages, um auch nur zu versuchen, das auszudrücken, was sie fühlte.
Aber sie wusste, dass sie bald einige Antworten geben musste, wenigstens Lucan gegenüber.
Sie beobachtete, wie er von den anderen Kriegern hinausbegleitet wurde, sie waren vertieft in Beratungen über Taktiken und Strategien im Kampf gegen die Rogues. Gabrielle wurde von Savannah und Danika rasch in die entgegengesetzte Richtung gezogen. Diese machten sich Sorgen um ihre diversen Kratzer und Blutergüsse und bestanden darauf, dass sie ein warmes Essen zu sich nahm sowie ein heißes Bad.
Gabrielle stimmte widerstrebend zu, aber nicht einmal Savannahs fantastische Kochkünste oder das warme, duftende Bad vermochten sie zu entspannen.
In ihrem Kopf drehte sich alles, wenn sie an Lucan, Jamie und die Ereignisse dieser Nacht dachte. Sie verdankte Lucan ihr Leben. Sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, würde ihm immer dankbar sein, dass er sie heute Nacht gerettet hatte, aber dennoch: Sie konnte nicht vergessen, was vorher zwischen ihnen geschehen war. So konnte sie auf keinen Fall im Hauptquartier bleiben. Und gleichgültig, was er sagte, sie würde in keinen der Dunklen Häfen ziehen.
Was für Möglichkeiten gab es also für sie? In ihre Wohnung konnte sie nicht zurückkehren. Unmöglich, sich wieder in ihr altes Leben einzufinden. Wenn sie jetzt versuchte, dorthin zurückzukehren, würde sie alles verleugnen müssen, was sie in diesen vergangenen Wochen mit Lucan erlebt hatte, und würde sich schwertun, ihn vergessen zu können. Sie würde alles verleugnen müssen, was sie nun über sich selbst und über ihre Verbindung zum Stamm wusste.
Die Wahrheit war, dass sie nicht wusste, wohin sie gehörte. Sie wusste auch nicht, wo sie mit der Suche beginnen sollte, aber als sie durch die labyrinthartigen Gänge des Hauptquartiers wanderte, fand sie sich plötzlich vor Lucans Privaträumen wieder.
Die Tür zum Hauptbereich der Wohnung war angelehnt, und sanftes Licht drang heraus. Gabrielle drückte sie weiter auf und trat dann ein.
In dem angrenzenden Schlafzimmer flackerte Kerzenlicht. Sie folgte der aus dem Raum dringenden Wärme bis zur Türschwelle und blieb dort voller Erstaunen über den Anblick, der sich ihr bot, stehen. Lucans schmuckloses Schlafzimmer hatte sich in einen Traum verwandelt. In allen vier Ecken brannte eine große schwarze Kerze, jede in einem silbernen Kerzenhalter mit verschlungenem Muster. Rote Seide bedeckte das Bett. Auf dem Fußboden vor dem Kamin befand sich ein bequemes Nest aus weichen Kissen und noch mehr karmesinroter Seide. Es sah ungeheuer romantisch aus, ungeheuer einladend.
Ein Zimmer wie für die Liebe gemacht.
Sie betrat den Raum. Hinter ihr schien sich die Tür leise von selbst zu schließen.
Nein, nicht ganz von selbst. Lucan stand da, auf der anderen Seite des Raumes, und sah sie an. Sein Haar war feucht von der Dusche, die er gerade genommen hatte. Er trug einen lose zusammengebundenen roten Morgenmantel aus rotem Satin, der ihm bis auf die bloßen Waden reichte, seine Augen waren voller Erregung, ein Blick, der sie auf der Stelle dahinschmelzen ließ.
„Für dich“, sagte er und deutete auf das romantische Liebesnest. „Für uns, für heute Nacht. Ich möchte, dass dies hier für dich etwas Besonderes wird.“
Gabrielle war gerührt und erregt von seinem Anblick, doch konnte sie nach dem, wie sie sich heute voneinander verabschiedet hatten, nicht mit ihm schlafen.
„Als ich heute Nacht gegangen bin, wollte ich eigentlich nicht zurückkommen“, sagte sie aus sicherer Entfernung zu ihm. Sie glaubte nicht, dass sie die Kraft hatte, das zu sagen, was gesagt werden musste, wenn sie ihm näherkam. „Ich kann das nicht mehr, Lucan. Ich brauche Dinge von dir, die du mir nicht geben kannst.“
„Nenne sie.“ Es war ein sanfter Befehl, aber trotzdem ein Befehl. Er ging vorsichtig auf sie zu, als ob er spürte, dass sie ihm jeden Augenblick weglaufen könnte. „Sag mir, was du brauchst.“
Sie schüttelte den Kopf. „Wozu sollte das gut sein?“
Er machte noch ein paar langsame Schritte auf sie zu und hielt erst eine Armlänge vor ihr an. „Ich möchte es gerne wissen. Ich würde gerne wissen, was nötig wäre, um dich davon zu überzeugen, bei mir zu bleiben.“
„Heute Nacht?“, fragte sie leise und hasste sich selbst dafür, wie sehr sie sich nach dem, was sie in diesen vergangenen Stunden durchlebt hatte, wünschte, von ihm in den Arm genommen zu werden.
„Ich will dich, und ich bin bereit, dir alles zu geben, was du brauchst, Gabrielle. Also sag mir, was du brauchst.“
„Dein Vertrauen“, antwortete sie und war davon überzeugt, dass das etwas war, was er ihr unmöglich geben konnte. „Ich kann nicht … kann das hier nicht mehr, wenn du mir nicht vertraust.“
„Ich vertraue dir“, sagte er so ernsthaft, dass sie es ihm tatsächlich glaubte. „Du bist die Einzige, die mich je wirklich gekannt hat, Gabrielle. Es gibt nichts, was ich vor dir verbergen kann. Du hast alles gesehen – und ganz sicher meine schlimmste Seite. Ich möchte die Chance haben, dir etwas von dem Guten in mir zu zeigen.“ Er kam noch ein Stück näher. Sie konnte die Hitze spüren, die von seinem Körper ausging. Und sie konnte sein Verlangen spüren. „Ich will, dass du dich bei mir so sicher fühlst, wie ich mich bei dir sicher fühlen darf. Also, die Frage ist, kannst du mir vertrauen, wenn du all das über mich weißt, was du weißt?“
„Ich habe dir immer vertraut, Lucan. Und das werde ich immer tun. Aber das ist nicht …“
„Was sonst noch?“, fragte er, ihr ins Wort fallend. „Sag mir, was ich dir sonst noch geben kann, um dich zum Bleiben zu bewegen.“
„Das wird nicht funktionieren“, sagte sie und ging langsam rückwärts. „Ich kann nicht bleiben. Nicht auf diese Art. Nicht wenn mein Freund Jamie …“
„Er ist in Sicherheit.“ Als Gabrielle Lucan verwirrt ansah, sagte er: „Ich hatte Dante an die Oberfläche geschickt, um nach ihm zu suchen, bald nachdem wir zurückgekehrt waren. Er hat vor ein paar Minuten berichtet, dass er deinen Freund aus einer Polizeiwache in der Innenstadt abgeholt und ihn nach Hause gebracht hat.“