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Jan Faktor

Georgs Sorggen um die Vergangenheit

wir lebten, ohne unter den klebestreifen sonderlich zu leiden

Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten — damals nur aus rein hygienischen Gründen. Um mit der Penisspitze nicht die Klobrille oder sogar die Innenseite der Schüssel zu berühren, griff ich beim Pinkeln mit der Hand zwischen meine Schenkel und drückte meinen Apparat senkrecht nach unten. Damit wollte ich gleichzeitig verhindern, daß der Urinstrahl durch den Spalt unterhalb der Klobrille meine heruntergelassene Hose benäßte.

— Was machst du da? fragten dann die Erzieherinnen, die die Zufluchtsorte der Aufsässigen häufig kontrollierten.

— Nichts, nichts weiter.

Offenbar konnte ich meine Lippen und meinen Unterkiefer gerade frei bewegen. Man klebte mir den Mund nur an den Tagen mit Klebeband zu, an denen ich ununterbrochen redete und nicht anders zu stoppen war. Das papierene Klebeband wurde von den Erzieherinnen immer großzügig angeleckt, und ich mußte den Mund fest verschlossen halten, um die Feuchtigkeitslinie meiner Lippen vor der klebrigen Fremdspucke zu schützen. Bald spürte ich schon, wie der Klebestreifen trocknete, sich zusammenzog und meinen Mund ein bißchen kleiner machte. Dazu muß man wissen: Wir — die Kleinen wie die Großen — lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft.

Wenn ich mir meinen Penis heute ansehe und mich kurz konzentriere, bekomme ich umgehend das Gefühl, daß es sich um ein ästhetisches Gebilde handelt. Er sieht schön aus, etliche Details im Eichelbereich finde ich sogar wunderschön. Seine Ästhetik entdeckte ich allerdings erst relativ spät, etwa ein Jahrzehnt nach seinem Erwachsenwerden, etwa dreizehn Jahre nach seiner späten Beschneidung, die meine Mutter nicht mehr aus nächster Nähe verfolgen, nicht mehr liebend begleiten konnte. Meine Mutter badete und pflegte mich in meiner Kindheit mit großer Inbrunst, strahlte dabei jedesmal intensiv — als ob sie mich gerade frisch geboren hätte. Daß ich in die Länge wuchs und immer großflächiger gesäubert und gepflegt werden mußte, störte sie überhaupt nicht. Wenn eines Tages der strenge Tantenrat nicht eingeschritten wäre, hätte meine Mutter sicher weitergemacht — und ich hätte mich heute als Mutters Pflegefall präsentieren können.

Wie man sich dank dieser kleinen Information denken kann, war ich Mutters einziges Kind. Es ist aber nicht die ganze Wahrheit: Ich hatte um mich herum mehrere mütterliche Wesen zur Auswahl und war auf meine Mutter nicht unbedingt angewiesen. Sie fiel als Bezugsperson sowieso öfter aus. Aber sie liebte mich trotz ihrer häufigen Depressionen und trotz meiner Widerspenstigkeit über alles, und ich versuchte später, ihre Liebe mit allen Mitteln weiterzugeben. Das nötige Zeug dazu hatte ich nun mal. Wieso ich meinen Hodensack mit seinem unsichtbaren und geheimnisvollen Samenlabor — im Gegensatz zu meinem Penis — nie sonderlich schön finden konnte, beschäftigt mich bis heute. Was den dunklen Sack im Konkurrenzkampf mit der Nr. 1 so blaß aussehen läßt, ist natürlich die ihm fehlende Orgasmusfähigkeit. Das gleiche gilt allerdings auch für die zartschönen Augenlider, die — egal, wie schnell man sie bewegt — nicht in der Lage sind, Lust zu spenden.

Die späteren Sorgen um meinen Penis betrafen in erster Linie seine angemessene Unterbringung; sie beherrschten mein Denken, überschatteten meinen Alltag, ließen mich oft wie einen sabbernden Idioten aussehen. Zum Glück konnte ich bald das erste konkrete Ziel meiner Wünsche ins Auge fassen. Als Dana einmal bei uns übernachtete, trug sie ein ziemlich durchsichtiges Nachthemd. Abends bekam ich das nicht mit. Um so intensiver erlebte ich es am nächsten Morgen. Dana kam aus dem sogenannten Gästezimmer, das indirekte Sonnenlicht beleuchtete sie schräg, und ich sah deutlich ihre steifen Brustwarzen und ihr dunkles Schamhaar. Von diesem Augenblick an war klar, daß ich eines Tages dorthin, genau an diese nämlichen Punkte, gelangen wollte. Dana war ein reizend zierliches Wesen. Problematisch war nur, daß sie viel älter war als ich. Sie war über vierzig, ich war damals sechzehn. Die nächste Schwierigkeit bestand darin, daß sie die beste Freundin einer meiner Tanten war, natürlich auch die Freundin meiner Mutter.

Lange Jahre meines Lebens empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so peinlich und unerträglich, daß ich froh war, es so nie wieder erleben zu müssen. Egal, wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war, in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich, quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber an, auf meine groteske Familie und auf mich mit Despektion herabzublicken. Ich sah uns wie von außen durchs Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand. Meine Blicke kühlten bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem Wutanfall kaputt.

Der Prozeß der ständigen Herabsetzung hinterließ in mir tief eingeritzte und eingestanzte Spuren. Und weil ich diese Art Selbstbeschämung konsequent praktizierte, drohten meine Ekelgefühle mich irgendwann vollkommen auszufüllen. Sie machten ein fast hoffnungslos verschlossenes Wesen aus mir. In besonders schlimmen Kernzeiten verschlug mir meine Vergangenheit die Sprache so gründlich, daß ich es nicht einmal wagte, unverständlich zu murmeln. Ich konnte mich nur noch stumm wundern — über mich und alles, was es außerhalb von mir noch so gab. Aber auch in besseren Zeiten hielt ich lieber dicht, wenn man von mir konkrete Aussagen verlangte.

— Wie fühlst du dich?

— He? Hm.

Das hat sich grundlegend geändert. Mein Name ist Georg, und ich habe jetzt endgültig keine Probleme mehr damit, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen. Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar — und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel — , daß mich eine helle Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein. Mein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft bewirkte nämlich, daß meine Sorgen nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine Vergangenheit betrafen. Ich mußte mich andauernd schütteln, wenn ich zurückdachte. Wenn ich daran dachte, was ich gerade hinter mir gelassen, welchen Unsinn ich da und dort erzählt hatte, litt ich wie ein verstümmeltes Versuchstier. Meine Beschäftigung mit dem Vergangenen war für mich früher auch deshalb so quälend, weil ich gern zwanghaft phantasierte, was alles hätte brutal schiefgehen können in meinem Leben — noch viel schlimmer hätte ausgehen können, als es der Fall war. So graute es mir aber wirklich nur vor meiner lästigen Vorgeschichte — egal, wie realistisch oder angstverfremdet ich sie in mir aufbewahrte. An die alltäglichen Abgründe war ich dagegen gewöhnt. Außerdem war ich in meinem aktuellen, wenn auch oft reichlich abgründigen Morast aktiv zugange, war wegen seiner zähen Klebrigkeit stark geworden und konnte nebenbei zusehen, wie ich meinem vorverlagerten Glück immer näher kam.

Wenn ich im Zusammenhang mit meiner Vergangenheit Wörter verwende, in denen es ums» Denken «oder» Nachdenken «geht, heißt das nicht, daß ich damals über mich wirklich nachgedacht hätte. Es war höchstens ein dumpfes Brüten, wozu ich fähig war. Bei uns zu Hause war es aus Rücksicht voreinander nicht üblich, den anderen verbal zu nahe zu treten, mit entsichertem Mund Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Um gar nicht in Versuchung zu kommen, andere seelenpenetrant zu belästigen, dachten also auch die Klügeren unserer Familie über sich selbst lieber nicht nach — und wegen der fehlenden Übung konnte es tatsächlich auch niemand von ihnen. Inmitten des engen häuslichen Miteinanders empfand sich sowieso kaum jemand von uns als ein ausreichend abgegrenztes Einzelwesen; man spezialisierte und reduzierte sich funktional, wie man es von Bienen oder Ameisen kennt. In meinem gedankenlosen jungen Gehirn gab es daher viele freie Kapazitäten — vielleicht ist deswegen mein Geruchssinn so hündisch hypertrophiert. Daß man Geheimnisse aus dem seelischen Unterleib überhaupt preisgeben durfte, erfuhr ich erst mit sechsundzwanzig.