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Autobahnen gab es bei uns damals nicht, wir fuhren auf kurvenreichen, relativ engen Landstraßen, und wir fuhren nicht besonders schnell. Zum Schluß war ich wie in Trance, und als wir anhielten und in der Nähe des Verbandsund Verlagshauses, zu dem Mutters Zeitschrift gehörte, abgesetzt wurden, hielt die traumhafte Stimmung weiter an. Ich bekam die letzten, logischerweise nur luftigen Küsse, und meine überzähligen Liebesobjekte verschwanden nacheinander. Die meisten Heimkehrer und Heimkehrerinnen wurden abgeholt, ich blieb am Ende allein und kam nicht von der Stelle. Und statt wie besprochen mit der ersten Straßenbahn nach Hause zu fahren, blieb ich dort, wo ich war und wo mir in mir so schön war. Daß ich mit meinen Lippen unbekannte Frauenmünder so ausgiebig verkosten durfte, daß ich ohne jegliche Schamgefühle die Brüste dieser glühenden Wesen befühlen durfte, war ein Quantensprung, ein Sprung um Jahre nach vorn. An diesem Punkt hatte ich mich von meinen nur auf Phantasien angewiesenen Altersgenossen auf einen Schlag verabschiedet.

In die Realität des Abends brachte mich meine Harnblase. Ich mußte auf der belebten Nationalstraße einen bescheidenen Platz zum Pinkeln finden. Einen starken Druck im Unterbauch spürte ich schon während der Fahrt, ich konnte ihn dank meiner Dauererektion zum Glück vernachlässigen — jetzt wurde der Überdruck unerträglich. Mir war jetzt aber alles egal, ich war endgültig kein Spießer mehr. Ich entblößte mich und pinkelte an die erstbeste Laterne, bis mich ein Grobian anschrie:

— Was schweinst du hier, du Schwein.

Er ließ mich aber weitermachen, und ich konnte noch während der Entleerung in Ruhe grübeln, ob das Verb» Schweinen«überhaupt existierte.

Darüber, daß mich eine wunderbare Zukunft erwartete, konnte es nach dieser Busfahrt gar keine Zweifel mehr geben. Ich war auch an profaneren Tagen von vielen aufreizenden Menschen umgeben, andere kannte ich kaum. Überall um mich herum gab es sie — einerseits brauchten diese Wesen zwar viel Liebe, andererseits waren sie auch uneingeschränkt bereit, Liebe zu geben. Offenbar lebte ich in der glücklichsten Stadt auf Erden. Als ich im Dunkeln nach Hause lief — in einer Straßenbahn hätte ich nicht für mich allein sein können — , sah ich, wie schön meine Stadt war, in was für einer zauberhaften Gegend ich wohnte. Wir wohnten wirklich sehr schön in unserer Stadt.

Der vorherige Satz ist einigermaßen ernst gemeint. Egal wann, egal wo, egal wem ich sagte, wo unsere Wohnung lag, lautete die Standardreaktion immer: — Schön, so schön, eine so wunderschöne Gegend…

Und es war tatsächlich eine Ausnahmegegend, in der unser etwas in die Breite gezogenes und mit einer dunklen Staubschicht konserviertes Mietshaus stand. Das Zentrum von Prag war nicht weit, war problemlos zu Fuß zu erreichen, trotzdem gab es in unserer Gegend viel Grün und viele unbebaute Flächen. Das Renaissanceschloß der Königin Anna — das Lustschloß Belvedere — lag in Sichtweite, und ein riesiges barockes Stadttor thronte gleich um die Ecke. Das Tor, das auf Tschechisch» Piseckä bräna «heißt, war an den Seiten mit Gras und Büschen bewachsen — und ist es bis heute, nur im anderen Pflegezustand. Von links und rechts sieht das Tor wie ein begrünter Hügel aus. Die seitlichen Hänge, also die steilen und damals nicht umzäunten Steigungen konnte man vom Bürgersteig aus problemlos betreten. Daß es eigentlich verboten war, kümmerte niemanden.

Zum Zusammenrotten von Jugendlichen war die Umgebung des Stadttores ideal. Oberhalb der Festungsgräben gab es etliche Ecken, in denen man auf dem massiven Geländer in einer Reihe sitzen und von diesen exponierten Posten den ganzen Nachmittag den Überblick behalten konnte. In der dunklen Durchfahrt des fünfundzwanzig Meter tiefen Tores hörte man oft kreischende Mädchenstimmen und ging erfahrungsgemäß von Grapschattacken aus. Die Kinder, die nicht beim Rauchen erwischt werden wollten, haben mit Vorliebe dort in der Dunkelheit geraucht und sich von den Autos, denen die Durchfahrt damals noch erlaubt war, nicht stören lassen. Das Stadttor war das eigentliche Zentrum des Geschehens, der Aktionsradius aller Beteiligten war aber wesentlich größer. Unterhalb der Stadtmauern, also in den ehemaligen Festungsgräben, wucherten teilweise dichte Büsche oder gestutzte und dicht gewordene Eibenhecken. In dem nahe gelegenen Chotek-Park, dem Lieblingspark von Franz Kafka, war der Wildwuchs in den Randzonen sowieso enorm. Überall konnte man zu ganz unterschiedlichen Zwecken untertauchen und dort für Stunden unbemerkt bleiben. Die älteren Jugendlichen nutzten die vielen Verstecke natürlich nicht zum Spielen und schleppten dorthin ihre Bräute ab. Wenn nötig, verscheuchten sie dabei die jüngeren und drohten ihnen Prügel an. Was sie dort mit ihren Weibern tatsächlich anstellten, konnten wir nur ausnahmsweise überprüfen, waren im Grunde nur auf die nachträglichen Prahlereien angewiesen. Nur ein einziger gab einmal zu, wegen eines BH-Verschlusses gescheitert und nicht sehr weit gekommen zu sein. Diese jungen Böcke kochten unsere Neugier natürlich nur zu gerne auf und ließen uns ihre Anmach-Gespräche einfach mit anhören.

— Komm mit, laß uns bumsen, komm.

— Jetzt nicht, hab' keine Zeit.

— Geht doch schnell, bist aber stur.

— Nein, will heute nicht.

— Warum gerade heute nicht?

— Hab' heute eben keine Lust.

— Hör mal auf, immer das gleiche zu plappern — wir verlieren nur Zeit.

— Ich will aber nicht.

— Mann! Jetzt hätten wir schon längst fertig sein können! Scheiße!

— Ich kann nicht.

— Hast du deine Tage? Mir macht das nichts aus. Komm doch.

— Will nicht, will heute nicht.

Das dickliche Mädchen war alles andere als schön, sah beim Sprechen immer wieder uns, das staunende junge Publikum, an, und schämte sich nicht — warum auch. Die junge Frau wurde begehrt und hatte die Macht, eine ganze geile Bande samt ihres Nachwuchses in Schach zu halten. Das nachfolgende Streitgespräch unter uns Jungkadern drehte sich vor allem um die Dauer des Geschlechtsverkehrs.

— Es ist ganz schnell vorbei. Ganz sicher, es geht wirklich ruck, zuck.

— Quatsch, auf keinen Fall. Das kann auch eine Stunde dauern. Und hinterher ist man müde und muß kurz schlafen.

Wir alle wohnten nicht nur DIREKT in der» Goldenen Stadt«, nicht nur in einer erotikgeladenen grünen Oase, nicht nur knapp unterhalb der Prager Burg — wir wohnten gleichzeitig unmittelbar auf der Bruchstelle zu dem nördlichen Rest der Stadt. Auf das Wörtchen DIREKT bildet sich jeder Tscheche gern etwas ein. Auch der brave Soldat Schwejk mochte Menschen, die nicht aus irgendeiner schmuddeligen Umgebung einer Stadt kamen, sondern DIREKT aus ebendieser Stadt. Später in meinem Erwachsenenalter ging es mit der Lobhudelei meiner Stadt und im besonderen meiner Wohngegend nahtlos weiter:

— Ach, Prag — eine so schöne Stadt, wunderschön, wie kann man aus einer so schönen Stadt weggehen! In der Nähe der Burg? Wirklich? So idyllisch?

Daß wir so schön wohnten, könnte der weitere Grund für die Häßlichkeitsimmunität aller bei uns versammelten Erwachsenen sein. Vielleicht sahen sie die vielen grauenhaften Möbelstücke, Schränke und Vorhänge im Schatten der Kulissen, die uns außerhalb der Wohnung überall umgaben. Hinzu kam noch der Glanz meiner Mutter. Meine Mutter konnte man vor einen egal wie verbrecherisch gestalteten Vorhang stellen, ihre Schönheit verlor dabei nur wenig. Die damals vom Feminismus noch vollkommen unberührten Männer waren so verrückt nach ihr, daß sie ihr im Kino sogar von hinten an den Busen faßten. Meine Mutter lachte darüber und erzählte es mir brühwarm. Ich wurde von ihr sowieso zunehmend mit unanständigen Anekdoten und Witzen versorgt. So war unsere Gegend für mich nicht nur schön, sie war voller schöner Obszönitäten. In einem von Mutters Witzen ging es um einen Texaner, der dauernd davon schwärmte, wie groß alles in Texas sei — nicht nur die Prärien, Felder und die Kuhherden, sondern auch körperliche Dinge. Sein Penis würde natürlich auch dazugehören. Dieser Texaner versagte aber kläglich, erzählte meine Mutter weiter, als er an eine Frau geriet, die zwar schön und begierig war, leider aber auch aus Texas stammte.»Mist! Ich wußte nicht, daß sie auch aus Texas war!«