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Mein Freund Skopka wurde kurz danach in die Küche geschoben, seine Mutter hatte noch ihr Nachthemd an. Frauen im Neglige waren für mich nichts Besonderes, und ich wollte mitgehen, Skopkas Mutter gab mir hinter dem Rücken ihres appetitgestörten Schlechtessers aber stumme, trotzdem eindeutig abweisende Handzeichen. Ich sollte dort bleiben, wo ich war. Die Küchentür ging zu, die besorgte Frau wollte ihren Sohn beim Frühstück bewachen und ihm jede Ablenkung ersparen. Meine Beine wurden unruhig, und ich wußte nicht, was ich mit dem gewaltigen Eindruck, den Vater Skopkas Apparat auf mich gemacht hatte, anfangen sollte. Instinktiv fühlte ich, daß es nicht klug gewesen wäre, seine möglicherweise kompetente Frau zu befragen. Mir stand außerdem noch die nächste Begegnung mit ihrem Monstermann unmittelbar bevor. Ich öffnete leise die Wohnungstür und rannte weg.

Meinem Freund Skopka — dem Kind aus einem Raritätenkabinett — durfte ich den Grund für meine Flucht nicht verraten. Ich mußte mich taktisch verhalten. Sein Versprechen, mir einige von seinen Kosmonautinnen abzutreten, stand auf der Kippe. Die gerade beschriebene Penisparade fiel in die Zeit der sowjetischen Erfolge im Weltraum. Die vierdüsigen Trägerraketen des legendenumwehten Sergej Koroljow explodierten nicht andauernd wie die amerikanischen — jedenfalls nicht vor aller Augen — , der Sputnik demonstrierte der ganzen Welt die Überlegenheit des Sozialismus, und die Hündin Laika zeigte die Perspektiven des Lebens und Sterbens im Weltall auf. Ich kann mich noch an die gigantisch überhöhte Stimmung erinnern, die nach solchen kosmosbezwingenden Großtaten auf den Straßen von Prag herrschte. Ohne jegliche Vorwarnung und im Widerspruch zum üblichen Alltagstrott wurde es plötzlich höllisch laut, und die triumphale Musik ließ einen im ersten Schreck an Kleopatras Einzug in Rom denken. An den Straßenlaternen hingen damals noch überall riesige Lautsprecher. Deshalb konnte man in jedem beliebigen Moment, bei jedem beliebigen Anlaß dezibelstark terrorisiert werden, die Stadt konnte sich flächendeckend wie auf Befehl in einen Festsaal voller Musik und Gefühlstaumel verwandeln. Eine ähnliche Inkongruenz zwischen Stimmung, Ausstattung und Ambiente konnte man später, nachdem das Absurde Theater die Zensurschranken überwunden hatte und in Prag endlich angekommen war, auf kleinen Experimentalbühnen erleben.

Zufällig und beliebig waren die Beschallungsattacken natürlich nicht. Bald nach der musikalischen Einstimmung ertönte eine aufgeregte, sich überschlagende Stimme, die das jeweilige Großereignis verkündete — und den Text der frohen Botschaft noch einmal und noch einmal wiederholte. Diese wuchtigen Bekanntmachungen waren für ohrenoffene Wesen wie mich, für Menschen mit leicht formbarer Gehirnmasse einmalig beeindruckend. Ich war gierig nach Glück, und so eindeutig optimistisch stimmende Ereignisse waren im sozialistischen Alltag eher selten. Und dann gleich ein derartiger Ausbruch von Freude! Dabei hätten die Lautsprecher, rein theoretisch, genauso den Ausbruch eines atomaren Weltkrieges verkünden können. Diese oft im Doppelpack auftretenden und eher an große Ohren erinnernden Apparate wurden normalerweise nie laut, man vergaß fast, daß es sie überhaupt gab. Sie taten mir wegen ihrer Unterbeschäftigung furchtbar leid. Wenn ich ausnahmsweise mal aufsah, hatte ich regelmäßig das Gefühl, sie hätten am liebsten — also im Falle eines atomaren Angriffs — das zum Zudecken benötigte und vor der Radioaktivität schützende Zeitungspapier ausspucken wollen; wenn sie es gekonnt hätten. Aus den entsprechenden Kursen der Zivilverteidigung wußten wir über diese Dinge alle gut Bescheid. Ob die Lautsprecher überhaupt funktionierten, war in der Zwischenzeit vollkommen unklar. Regelmäßig genutzt wurden sie nur einmal im Jahr am Ersten Mai.

Als im Jahre 1961 Gagarin ins All geflogen und wieder zurückgekehrt war, wurden alle Schallmauern der Freude endgültig durchbrochen. Die Männer in der Beglückungszentrale waren außer sich geraten, brachten sich in Rage von mindestens 5 Mach, konnten stundenlang nicht aufhören zu senden — und wahrscheinlich ruinierten sie damals ganze Teile ihrer Apparatur. Sie drehten und würgten an den Knöpfen ihrer Verstärker, ließen die musikalischen Begeisterungswellen sich eruptionsartig überschlagen, erlaubten den eingeladenen Prominenten, unsinnig laut in die Mikrophone zu brüllen — so laut, daß man sie wegen der Überschreitung der Pegelgrenzen gar nicht verstehen konnte. Einigen Sprechern barsten in den Hälsen vielleicht lange verborgen gehaltene oder auch ihnen selbst verborgene Glücksblasen. Technisch oder menschlich muß an dem Tag jedenfalls einiges schiefgegangen sein. Nach dieser öffentlichen Orgie blieben die Straßenlautsprecher in meinem Stadtteil sehr lange still. Aus den folgenden Jahren kann ich mich jedenfalls an keine flächendeckende Freudeverteilung mehr erinnern.

Bereits während des allgemeinen Jubels um den zweiten Sputnik mit der tapferen Laika rührten sich in der Gesellschaft auch Menschen, denen nichts heilig war. Kurz nach Laikas Triumph kursierte in der Bevölkerung ein Schmähreim, der zusätzlich noch nach einer Rock'n'Roll-Melodie aus Amerika gesungen wurde:

Sovetsti muzici / vypustili druzici /Lajku do ni nacpali /a nazratjinedali. Frei übersetzt heißt es:»Sowjetische Muschiks schossen einen Sputnik ins All, pferchten die Laika rein und gaben ihr nichts zu fressen. «Viele Menschen waren über dieses Lied empört, die Rock-Around-The-Clock-Melodie war aber bestechend, und den Text kannte bald jeder. Die arme Laika war allerdings an Überhitzung und Streß gestorben, nicht an Hunger. Ihre Wegzehrung — vergiftetes Essen — hatte sie sogar dabei. Mein Freund Skopka blieb von jedem störenden und nebensächlichen Treiben in der Stadt unbeeindruckt, entschloß sich vielmehr, den Boom zu nutzen und statt eines Hundes die viel leichteren Fliegen in den Himmel zu schicken. Eine Rakete hatte er zwar noch nicht — sprach nur vage von irgendwelchen Tests und Brennkammern — , als erstes wollte er lieber seine Kosmonautinnen auf Vordermann bringen. Das wichtigste Trainings- und Foltergerät war eine selbstgebastelte, durch einen kleinen Elektromotor angetriebene Zentrifuge. Die half ihm bei der Selektion der Fliegen effektiv, und die stärksten Tiere kamen nach drei Durchläufen in ein geräumiges und gut belüftetes Glas mit dem besten Futter. Dazu muß man wissen: Viele der Fliegen überlebten nicht einmal die erste Drehzahlstufe. Von seinen trainierten Spitzenexemplaren gab er mir am Ende leider kein einziges ab. Skopkas Einstellung zum Leben — so etwas wie sein Lebensmotto — entsprach mir trotzdem sehr: Auch eine Fliege muß etwas leisten, bevor sie in den Himmel kommt. Von nichts kommt nichts. Skopka war technisch viel begabter als ich, im Vergleich zu mir war er aber ein wirklich miserabler Esser. Darin stimmte ich mit seiner Mutter überein. Er bekam die Reste seines Frühstücks manchmal mit auf den Weg, und wenn er aus der Sichtweite seiner hinter den Gardinen vermuteten Mama war, schmiß er alles in die Büsche.