— Hat jemand Lust zu lernen, wie man Schaufenster ruck, zuck sauber bekommt? Das ist auch kein Schwejkeln. Wegen meiner Übersetzungen ist es für mich existentiell, fügte der Chefredakteur etwas entnervt hinzu.»Der eiserne Gustav «darf endgültig nicht erscheinen, wißt ihr das schon? Wegen unserem lieben Präsidenten.
— Nur weil Husäk Gustav heißt?
— Genau, nur wegen dem GUSTAV.
Irgendwann löste sich die Gruppe auf, die Männer hatten noch andere Wege vor sich und sicher noch viele interessante Dinge zu erledigen. Unsere Begleiter mußten sich entscheiden und sich auch voneinander trennen. Ich blieb mit Kläda allein und ging mit ihm zur Bibliothek, wo er mit jemandem verabredet war.
— An uns kristallisiert sich das schlechte Gewissen, das die Leute mit der Zeit angehäuft haben, sagte er nach einer Weile. Das werden wir noch zu spüren bekommen, warte mal ab. Die Volksseele vermutet hinter jedem Dagegensein intellektuelle Überheblichkeit.
— Hat dich jemand angegriffen?
— Nicht direkt, ich spüre das aber. Trotzdem würde ich das nicht so persönlich nehmen. Ich bin ein glücklicher Mensch, mir fehlt nichts. Über diese, im Grunde unsere Zeit sollten unbedingt jüngere Leute etwas schreiben. Alles muß aber noch etwas reifen, das ist klar. Von unserer Garde kommt zwar viel kluges Zeug, intellektuell erreicht man die Leute niemals wirklich. Man müßte Romane oder Stücke schreiben. Außerdem sind wir Alten mit dem jetzigen Mist total verstrickt.
— Ich werde keine Romane schreiben, Prosa lehne ich sowieso ab. Ich will lieber auf alles draufhauen, möglichst auf jedes einzelne Wort.
— Vielleicht nachdem du alles zerhauen hast, Georg, warte mal ab. Das Erzählen hat etwas Magisches, glaub mir. Im Grunde will man als Leser — in jedem Zeitalter — immer nur wissen, wie es weitergeht, und vor allem, wie es in seinem eigenen Leben weitergehen wird und ob es besser wird. PAPA, MAMA, WIE GEHT ES WEITER…
— Ist das nicht etwas kindisch? sagte ich vorsichtig.
— Natürlich! Aber egal, wie kindisch solche Sehnsüchte sind, sie helfen einem weiter.
— Schreibst du weiter an den Erinnerungen?
— Nein. Ich wurde vor allem mit den fünfziger Jahren furchtbar unzufrieden. Außerdem stecke ich täglich so tief in dem, was jetzt los ist… mir fällt es sowieso schwer, mich mit meinem vergangenen Kleinkram zu beschäftigen. Ich würde viel lieber Prosa schreiben, kann es aber nicht. Noch zu den Romanen: Wenn die Geschichte gut ist, kann man beim Lesen die eigene Gegenwart in die Zukunft verlagern und sie dort auch fühlen. Als Leser durchbricht man im Grunde eine Art Schallmauer, flüchtet aus dem Jetzt nach vorn… Ich höre jetzt aber auf zu dozieren.
Nach einer Pause fragte er mich:
— Wohnst du noch zu Hause?
— Ja.
— Alles tolle Frauen um dich herum, wunderbare Menschen. Du solltest aber unbedingt ausziehen, hörst du. Von deinem Vater wirst du dich nicht befreien müssen, das wird der Verrückte schon selbst erledigen. Ich kannte Lad'a vom Studium ganz gut, das weißt du aber. Er war ein ganz großer Trickser, lernte immer nur kurz vor den Prüfungen. Damals nannten ihn manche noch Ladios, das hat er dir vielleicht verschwiegen. Den Namen hatte er schon vor Urzeiten auf dem Gymnasium von seinem Griechischlehrer bekommen.- Von meiner Mutter kenne ich einen anderen alten Spitznamen von ihm — Tabakschnorros.
— Seine Eltern waren arm gewesen. Dein Großvater hat das ganze Leben die Prager Straßenbahnen angestrichen, nicht wahr?
Nach der Implosion unseres Sozialismus, also der Umvolution von 1989, traf ich Kläda noch zwei- oder dreimal. Eins der Gespräche war etwas länger.
— Was ich neulich gehört habe! sagte er. Ich mußte erst einmal länger nachdenken, wie der Mensch auf diesen Unsinn überhaupt kommen konnte — dabei ist er kein Dummer. Er meinte, die Dissidenten hätten in ihren Kreisen die ganze Zeit nicht jeden Normalsterblichen geduldet, weil sie später — sozusagen in weiser Voraussicht der zukünftigen Ordnung — die politischen Posten nur unter sich verteilen wollten.
— Verstehe ich nicht ganz.
— Mußt du auch nicht, warte… Mir persönlich ging es gut, habe auch nie gejammert — aber die anderen, das waren doch alles mutige Leute, oder? Und die sollten damals spekuliert und auf den sinkenden Kurs der Kommunisten gesetzt haben? Absurd! Existentiell war alles vollkommen ungewiß. Vor allem die jüngeren Leute hat die Polizei gezielt drangsaliert — geprügelt, kahlgeschoren, mit brennenden Streichhölzern gequält. Und die Volksseele verliert kein Wort über die eigene Feigheit.
— Alle sagen jetzt generell» unter den Kommunisten«. Egal, wieweit sie selbst mitgemacht haben.
— Das alles hat etwas Entrücktes. Aber die Leute vergessen nichts und erlassen auch nichts — an sich ist das in Ordnung. Die Jüngeren hatten diesen Staat außerdem nie gewollt — wir dagegen ja. Ich habe mich damals mit großer Begeisterung ins Zeug gelegt, war ein geschickter Agitator — das kannst du mir ruhig glauben. Für solche Dinge bekommen wir jetzt auch ordentlich Dresche.- Daß der Mut aus der Dissidentenzeit so wenig zählt, finde ich trotzdem bescheuert. Von der Mitschuld könnte man euch einiges auch erlassen.
— Wir sind hier nicht in Südafrika, von mir aus sollen die Leute ruhig stur bleiben. Das kollektive Wissen ist sowieso hartnäckig, man müßte sich über das zögerliche Vergessen eigentlich freuen. Die Rekatholisierung unter den Habsburgern ist beispielsweise auch nicht vergessen — und die begann vor über dreihundertfünfzig Jahren. Die Tschechen sind bis heute nicht tief gläubig.
— Meinst du die Katholiken?
— Nein, das betrifft doch alle. Die Leute glauben bei uns generell eher pro forma, jedenfalls nicht wirklich inbrünstig. Die Vergewaltigung traf damals die ganze Nation — und der Katholizismus war nichts anderes als die Religion der damaligen Okkupanten. Was uns davon geblieben ist, ist unsere Skepsis. Es gibt bis heute kaum Fanatismus. Man sollte mit den Leuten nicht zu streng sein.
— Das sagst gerade du?
— Ja, ich muß es unbedingt so sagen. Wir fühlten uns damals wie Menschen eines besonderen Schlags, wie Väterchen Stalin uns vorsagte — und wir waren auf unseren vermeintlich neuartigen Fanatismus auch noch stolz. Zum Glück hielt das nicht lange an. Trotzdem: Dichter wurden hingerichtet oder in den Tod getrieben — und nicht wenige! — , einfache Existenzen millionenfach kaputtgespielt. Mit uns sind dünnpfiffige Emotionen durchgegangen, das wollen heutzutage viele nicht mehr wahrhaben. Auch die ganze nachträgliche Reformiererei in den Sechzigern — alles Illusion und Unsinn. Aber clever sind die Leute wirklich ohne Ende. In dem Vorwurf gegen die Dissidenten steckt ein hochintelligenter Dreh. Im Grunde rechtfertigt man das eigene Stillhalten nicht nur damit, daß man in gewisse Kreise» nicht reingelassen wurde«, man feiert gleichzeitig so etwas wie seine angeborene Weisheit — als ob man schonimmer Bescheid gewußt hätte… Wenn das aber wieder Schwejkeln sein sollte, dann gute Nacht.
— Inzwischen kommen sie sich vielleicht noch sauberer vor als du.
— Ich komme mir überhaupt nicht sauber vor. Ich bin schuldig und bleibe es auch. Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt.
meine mutter ließ sich seine erinnerungen in ihr schönes ohr flüstern
Da ich meine Schulfreunde, Freunde aus meiner alten Clique und auch die späteren vom Gymnasium mied, vereinsamte ich zunehmend und ließ mich bald darauf ein, die berüchtigten Besuchsgänge meiner Mutter mitzumachen. Sie ging in einem bestimmten turnusartigen Rhythmus zu allen alten Bekannten der Familie, pflegte diese unkündbaren Kontakte teilweise seit Jahrzehnten und versprühte dort gekonnt ihre Lebendigkeit. Diese besondere Dienstleistung wurde inzwischen auch von ihr erwartet. Von mir — dem Kind — erwartete man dagegen nichts weiter und konnte zu mir nicht einmal» Georg, bist du aber groß geworden «sagen. Es wäre sowieso glatt gelogen gewesen. Da ich diese Leute allerdings schon seit der frühen Kindheit kannte, war es an sich angebracht, daß ich diese Kontakte nicht ganz einschlafen ließ. Außerdem bestand die Möglichkeit, in ihrem Umfeld jüngeren weiblichen Wesen zu begegnen.