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Manche dieser alten Leute lebten relativ ärmlich, manche dagegen in ihren alten, vor dem Krieg herrschaftlich eingerichteten Wohnungen, denen man das Großbourgeoise sofort ansah. Sie besaßen immer noch prächtige, von angesehenen Innenarchitekten entworfene Polstergarnituren, zogen sich tadellos an — wenn auch die Damen des Hauses inzwischen eine längere proletarische Vergangenheit hinter sich hatten. Manche dieser Bekannten waren Verwandte von weltbekannten Menschen. Frau S. war die Tochter von Franz Kafkas Lieblingsschwester Ottla, die nächste Dame war Schwägerin von E. E. Kisch, irgendwer war mit Max Brod verwandt oder eng befreundet gewesen, der nächste mit der Werfel-Familie, der übernächste alte Mann war einberühmter Shakespeare-Übersetzer und kannte seit seiner Jugend sowieso alle und jeden. Einer dieser alten Männer war seit Jahren mit allen seinen Restkräften dabei, den Ulysses zu übersetzen (»Ich quäle mich damit immer noch…«), der nächste war Germanist und Altphilologe und war seit Jahrzehnten in erster Linie darauf konzentriert, sich von seinen jüdischen Unzulänglichkeitsgefühlen aufzehren zu lassen. Prag hatte für uns dank dieses etwas vergreisten Netzwerks etwas übersichtlich Konstantes und Zeitloses, was vom aktuellen Geschehen in Prag so gut wie abgekoppelt war.

Der letztgenannte, über achtzigjährige Übersetzer war seit dreißig Jahren leider nie wirklich gesund, fühlte sich seit über fünfzig Jahren als Dichter nicht genügend anerkannt und war schon seit seiner Jugend oft depressiv. Meine Mutter mußte ihn vor allem nach seiner Inhaftierung in den fünfziger Jahren immer wieder aufmuntern, auch bei unseren aktuellen Besuchen war das die ganze Zeit ihre Hauptaufgabe. Die Frau des alten Mannes bat sie immer wieder — telefonisch und heimlich — ausdrücklich darum, ihren Mann bei den Besuchen etwas aufbauen zu helfen.

— Sie sind immer so intensiv! Das tut ihm immer gut.

Ihr Mann war wahrscheinlich der beste tschechische Nachdichter aus dem Deutschen, man durfte es ihm aber nie so pur sagen. Man hätte damit seine eigentliche Größe als DICHTER in Frage gestellt. Wenn es doch mal um seine Nachdichtungen ging, war es unumgänglich, wenigstens einmal das Wörtchen» kongenial «fallenzulassen.

— Neulich hat ihn einer loben wollen, das war furchtbar. Sagen Sie ihm bitte niemals, daß er der größte Nachdichter aller Zeiten ist! Er hört daraus sofort das NACH und NUR heraus.

Bei den Begegnungen konnte meine Mutter erzählen, was sie wollte. Dem Alten ging es dabei trotz seiner abgründigen Untröstlichkeit gleich viel besser. Er hatte als jungerMensch wild und hoffnungsvoll zu dichten begonnen, schrieb vor allem Liebes- und Naturlyrik. Nach dem Krieg, den er in England überlebt hatte, war das Schreiben aber fast ausschließlich zu seiner Privatsache geworden. Daran sei natürlich auch der rechthaberische Adorno schuld gewesen, klagte er, nicht nur die Verhältnisse. Trotzdem betrachtete er sich noch dreißig Jahre nach dem Krieg in erster Linie als ein Dichter. Und es war ratsam, bei dem Besuch eines seiner Gedichte aus den dreißiger oder zwanziger Jahren zu erwähnen, am besten gleich irgendwelche besonders gelungenen Stellen zu zitieren. Grundsätzlich änderte das aber nichts. Für seine Selbstzweifel gab es natürlich einige gute Gründe. Bei uns zu Hause wurden regelmäßig einige weniger gelungene Stellen aus seinem Werk zitiert, und wir amüsierten uns über sie gern. Verständigungssprache war in diesen Fällen notgedrungen Deutsch.

— Ich möchte nicht als eine»überreife Frucht «umworben werden, meinte gelegentlich Tante Erna, obwohl ausgerechnet sie eine solche war.

— Ich nicht als» tabuschwere Knospe«.

«Ich zermalme dein >Nein< in meiner Gier aus Schleim«, soll er bei einer Privatlesung mal deklamiert haben. Eventuell wurde ihm die Autorschaft dieser Zeile von ehemaligen Kollegen aber nur angedichtet. Er hatte vor allem Rilke, Heine und Schiller übersetzt, Goethe hatte er seinem größten, inzwischen allerdings verstorbenen Rivalen überlassen müssen.

Mit meiner Mutter unterhielt sich der alte Dichter natürlich nur deutsch. Mich quälten beim Zuhören inzwischen nicht mehr die in den deutschen Sätzen viel zu spät auftauchenden Verb-Vorsilben, das Hauptproblem war hier das unerträgliche Flüstern des Alten. Er sprach so leise, daß ich in seiner Wohnung immer das Gefühl bekam, mich in der Nähe von einsturzgefährdeten Grabstätten zu befinden — wenn nicht sogar in der Grabesnähe des gerade noch atmenden Gastgebers. Seltsam war, daß der Mann trotz seines Alters noch ein erstaunlich gutes Gehör hatte, allerdings der Meinung war, seine Altersschwerhörigkeit würde von Woche zu Woche schlimmer. Und weil er alle Schwerhörigen und zu laut sprechenden Menschen haßte, drosselte er aus Vorsicht seine eigene Stimme unverhältnismäßig und rücksichtslos. - Mit welcher Lautstärke mich alle immer anbrüllen!

Er selbst nahm leider an, er würde normal laut sprechen. Dabei kamen aus seinem Mund meistens nur leise gehauchte Wortschatten — verstärkt höchstens durch schleimvibrierendes Röcheln. Schon aus der Entfernung von zwei Metern konnte man ihn kaum hören, verstehen schon gar nicht. Das schaffte allerdings eine ganz besondere Gesprächsatmosphäre und hatte einen nicht zu vernachlässigenden Nebeneffekt — meine Mutter mußte im Laufe der Begegnung immer näher an ihn heranrücken. Er flüsterte seine Erinnerungen — meist immer die gleichen — in ihr schönes Ohr und verplemperte mit ihnen unsere gemeinsame Gegenwart. Für mich hätte es verheerende Folgen gehabt, wenn ich mein akustisches Ausgeschlossensein angesprochen hätte. Erlaubt war nur trübnislose Dankbarkeit.

Im Grunde wollte er meine Mutter nur für sich allein haben, ich sollte mich eher mit seiner zarten, gefährlich dürren, trotzdem immer reizend lächelnden Frau unterhalten — am liebsten in der kleinen Küche nebenan, in der immer genug zu tun und zu helfen sei, wie er gern betonte. Wenn ich nicht in der Küche war, saß ich oft resigniert in einem separaten großen Sessel ein Stück zu weit weg von den beiden Flüsterturteln und hörte nichts. Die Gattin des Alten interessierte sich für die tausend Mal wiederholten Geschichten sowieso nicht mehr, und wenn sie in der Küche fertig geworden war und sich leise zu uns gesellt hatte, schwieg sie meistens — wie ich auch. Den Monologisierer machte es sowieso unruhig, wenn er das Gefühl bekam, jemand strebtedanach, irgendwelche konkurrierenden Gesprächsthemen ins Spiel zu bringen. Auf diese Weise erfuhr er nichts Neues. Seine Frau und ich sahen uns ab und zu in die Augen und schafften uns nebenbei unser eigenes, noch leiseres Miteinander. Über den Alten wurden schon immer verschiedene Anekdoten erzählt. Angeblich soll er schon als junger Mann manchmal so ungewöhnlich leise gesprochen haben, daß er sich selbst nicht präsent genug vorkam.

— Was habe ich gerade gesagt? scherzte er über sich, als es ihm noch möglich war.

Im Krieg hatte er in der englischen Armee gedient und mußte dort jahrelang furchtbar früh aufstehen. Er litt unter der ständigen Müdigkeit, verbrachte angeblich die ganze Zeit im somnambulen Zustand. Als er einmal vor tschechischen Soldaten einen Vortrag über deutsche Geschichte halten sollte, sprach er wie aus einem Traum heraus, leider immer leiser und leiser — bis er bei seinem eigenen Vortrag einschlief. Diese Geschichte erzählte er sogar einigermaßen laut.

— Im Raum wurde es, das bemerkte ich noch, ungewohnt still. Es war kurz nach dem Frühstück, ich beugte mich über meinen Tisch und schwebte wieder halb in meinen Träumen. Allerdings wunderte ich mich eine Weile ganz bewußt, wieso die vielen Männer so ruhig vor mir saßen. Und wieso sie so passiv waren — sie schrieben nicht, sie lasen nicht, nichts tat sich. Niemand sagte ein Wort, trotzdem wirkten sie alle wie gebannt, schienen auf etwas zu warten, sahen mich an — dann kippte ich wahrscheinlich nach vorn.