Eine andere Anekdote besagte, daß der junge Dichter damals — immer kurz bevor sein nächster eigener Gedichtband erscheinen sollte — wie verändert gewesen sei. Seine Körperhaltung soll eine andere gewesen sein, er soll größer und muskulöser gewirkt haben. Und als der Band dann herauskam, hätte er eine Zeitlang doppelt so laut wie üblich gesprochen.Ich hätte bei den Besuchen eigentlich auch gern mitgeredet, um mein Deutsch aufzubessern, dazu kam es aber fast nie. Ich langweilte mich und spielte nebenbei wenigstens mit der feinen Oberfläche des plüschigen Lehnstuhls, in dem ich saß. Die Härchen schimmerten teilweise ganz hell; wenn man sie mit der Hand in die andere Richtung strich, wurden sie wieder dunkel. Das alles spielte sich in den schönsten Bordeaux-Tönen ab. Bei uns zu Hause gab es keine Plüschmöbel. Plötzlich donnerte mich eine laute Stimme wie vom Himmel an, eine Stimme, die ich so nicht kannte. Der Dichter konnte offensichtlich auch ganz anders:
— Verschmierst du dort unsere Schlagsahne, Georg?
Als wir einen Bekannten auf seiner neuen Arbeitsstelle — ABSCHIEBESTELLE, wie er sagte — besuchten, bestätigte sich mir einmal, wie wahr — oder fast wahr — alle abgedroschenen Redewendungen sein können. Konkret ging es um eine besondere Art der Tränenausscheidung. Ich ging auf die Hinterhof-Toilette der schmuddeligen Büros, und im Vorraum, in dem ich mich entscheiden sollte, welchem Geschlecht ich angehörte, waren auf den Klotüren keine Buchstaben, keine Symbole angebracht, sondern Pin-up-Bilder: Auf der einen ein wunderschöner junger Mann mit entblößtem Oberkörper und einer Zigarre im Mund, auf der anderen eine Göttin in Bikini. Als ich die stolze weibliche Traumfigur sah, schossen mir die Tränen nicht IN DIE AUGEN, sondern regelrecht AUS DEN AUGEN heraus — wie zwei kleine Geysire. Ich stand da und wußte absolut nicht, welche Tür ich ansteuern sollte. Allerdings waren mir Zweifel vor derart verwirrend bebilderten Klotüren überhaupt nicht neu. Instinktiv zog es mich natürlich immer zu den Frauen — eben dorthin, wo diese sich oft in Scharen aufhielten und einzeln ihre Höschen herunterzogen.
Vieles war — wie gesagt — wie früher, fast wie in der Kindheit, trotzdem grundsätzlich anders. Ich kannte meine Mutter inzwischen recht gut, und das relativ unkindlich. Und wie ich eines Tages erfuhr, kannte ich sie sogar wesentlich besser als ihr Liebhaber, obwohl dieser mit ihr — als seiner Zweitfrau — inzwischen mehr als zehn Jahre liiert war. Meine Mutter hatte einiges über sich einfach nie verraten. Und ihr Freund sah keinen Grund dazu, danach zu forschen. Von ihren Depressionen, Überforderungsängsten und Minderwertigkeitsgefühlen hatte er keinen blassen Schimmer. Sie konnte alle ihre zusammenfaltbaren Makel meisterhaft überstrahlen. Ihren Freund nannte sie sicherheitshalber ironisch» mein Herr«.
— Wie es mir gestern ging, muß mein Herr nicht wissen. Es reicht, daß du alles mitbekommst. Ihre wichtigste Weisheit über Depressionen lautete sowieso:
— Eine Depression kommt und verschwindet wieder von alleine.
In dieser Zeit starb mein Vater, den ich tatsächlich nicht selbst umbringen mußte. Daß er nicht lange leben würde, war zu erwarten gewesen. Er trank inzwischen nur noch und gehörte in seinem Neubaugebiet zum festen Bestandteil einer leicht eingebildeten Alkoholikerclique — Säufer mit einem IQ unter 120 hätten in seinem Kreis keine Chance. Nachdem er in der Kneipe alle drückenden Probleme des tschechischen Volkes und der übrigen Welt gelöst hatte, grüßte er torkelnd und fröhlich oder torkelnd und wütend jeden, den er auf der Straße mit seinem Tunnelblick erfaßt hatte, beschimpfte von weitem seine Nachbarn, die um ihn möglichst einen Bogen machten, winkte gern auch meinem sich für ihn schämenden Halbbruder zu — also seinem noch schulpflichtigen Sohn — , oder er täuschte einen Jiu-Jitsu-Angriff vor, wenn die Freunde seines Sohnes sich über ihn lustig machten. Wenn er seine Frau und Mitbewohnerin traf, zog er sie, wenn sie allein war, gern wegen ihres Liebhabers auf, der ein einfacher Taxifahrer war.Als man meinem Vater seine verstopften Halsschlagadern reinigen wollte, mußte er ins Krankenhaus. Er besoff sich heimlich auch dort — sogar noch in der Nacht vor der Operation. Mein Vater, der gerade zweiundfünfzig Jahre alt geworden war, verabschiedete sich dann beim ersten Narkoseschub.
In seinem letzten Lebensjahr unternahmen mein Vater und ich — wer hätte das früher gedacht — noch einige ausgelassene Sauftouren in der Innenstadt. Er und ich, wie zwei alte Bierkumpane, es war wie in einem bösen Märchen. An diesen Abenden machte er mich überraschenderweise zu seinem Vertrauten. Im Grunde erkannte er mich damit endlich an und behandelte mich — meistens jedenfalls — wie einen ebenbürtigen Erwachsenen. Einiges um uns herum befand sich tatsächlich im Umbruch, und wir waren, trotz einiger gravierender Unterschiede, doch zwei ähnliche, von drückenden Umständen und bösartigen Schicksalsschlägen geprüfte Männer. Mich interessierte inzwischen die Politik nicht sonderlich. Was Kardinal Mindszenty in Wien trieb, nachdem er die amerikanische Botschaft nach fünfzehn Jahren hatte verlassen können, ließ mich kalt. Und was aktuell in Vietnam oder etwas später in Chile los war, war mir auch relativ egal. In diesem Punkt unterschied ich mich nicht von meinem Vater und war mit den meisten meiner Landsleute auf einer Linie. Überall, wo der verhaßte Sozialismus auf der Welt bekämpft wurde, sollte er mit voller Härte auch zurückgedrängt werden. Vaters frisch erblühter Antikommunismus war allerdings voller Halbwissen und nur noch irrational. Manchmal stimmte ich ihm bei seinen Haßtiraden vorsichtshalber zu und hatte danach das unkluge Gefühl, ein ähnlicher Trottel zu sein wie er.
Ich hatte in dieser Zeit — wie gesagt — keine Freunde, neue zu suchen kam nicht in Frage, und Frauen anzusprechen war für mich inzwischen vollkommen unmöglich. Meinen Vater kannte ich nun mal, und sich mit ihm auszutauschenwar schon nach dem ersten Bier meistens unproblematisch. Wir näherten uns tatsächlich an und wurden kurz vor seinem Tod, wenn auch ohne wirkliche Konstanz, wieder so etwas wie Freunde. Vater hatte immer genug Geld dabei, er zahlte und zahlte, ich konnte auch in teuren Restaurants bestellen, was ich wollte.
Eine Zeitlang hatte mein Vater ein Verhältnis mit der ebenfalls alkoholkranken Gattin des Langzeit-Geliebten meiner Mutter. Mein Vater und diese langzeit-betrogene Frau — im Grunde die beiden früheren und jetzt überkreuz gebildeten Paare — kannten sich natürlich noch von früher aus dem Studium. Für kurze Zeit hatte sich um mich herum ein neu zusammengesetzter Kopulationskreis gebildet. Etwas später brachte mein Vater eine viel jüngere Frau von seiner Arbeitsstelle mit, und er erlaubte mir beim Saufen sogar, sie anzubaggern. Hinterher amüsierten sich die beiden über mich. Nach Dienstschluß schliefen sie manchmal miteinander — angeblich auf Vaters Schreibtisch. Bei der nächsten Gelegenheit berichtete er mir stolz und ausdauernd nicht nur über seine Noch-Funktionstüchtigkeit, sondern auch darüber, wie niedlich mich seine Braut gefunden hatte.
— Diese gemeinsamen Bewegungen beim Sex! Es ist das Schönste, was es im Leben überhaupt gibt! Aber du — mach dich vor ihr bitte nicht lächerlich, Georg!
Er war kurz nach dem Einmarsch der Russen wegen» politischer Unzuverlässigkeit«, sicher aber auch wegen seines Alkoholismus entlassen worden — er konnte sich allerdings zu Recht als ein echter Reformer und Opfer von Säuberungen fühlen. Trotzdem wurde er auf seiner neuen Arbeitsstelle als ein ehemaliger Stasimann natürlich gehaßt. Dabei hatte er im ansteckenden Taumel des achtundsechziger Frühlings eventuell doch einiges verändern und mildern, die Aktivitäten seines Ministeriums mehr auf Aufklärung und weniger auf Bespitzelung lenken wollen. In diesemPunkt hatte er mich möglicherweise nicht belogen. Aus der Partei war er selbstverständlich ausgeschlossen worden. Sein liebes Ministerium zahlte ihm nach der Entlassung trotz allem einen Ausgleich zu seinem aktuellen Gehalt — so daß er genauso viel verdiente wie davor.