— Ich weiß immer noch viel, viel zu viel!!! brüstete er sich. Die Kommunistenschweine zahlen mir jetzt gutes Schweigegeld — müssen sie auch.
Seine neue Freundin war unschön und schamlos, zu meiner morbiden Stimmung paßte das bestens. Pro forma war sie noch verheiratet, unglücklich war sie auch — und ich fand ihr Unglück und ihre alkoholblasse Ausstrahlung ausgesprochen anziehend. Wir amüsierten uns alle drei köstlich; nur ich manchmal etwas gequält, wenn die beiden mich gerade aufzogen. Am amüsantesten war es, wenn Vater am fortgeschrittenen Abend beschloß, seine Freunde von früher aufzusuchen. Manche von ihnen hatte er jahrzehntelang nicht gesehen. Wir machten uns, angetrunken wie wir waren, auf den Weg. Mein Vater wollte selbstverständlich auch gern mit seiner viel jüngeren Freundin angeben. So standen wir plötzlich vor einer fremden Tür und klingelten, natürlich waren wir nicht angemeldet. Die Gesichter der überrumpelten Leute sehe ich noch heute vor mir. Man bat uns höflich hinein, uns abzuweisen traute sich niemand. Mein bestgelaunter Vater erklärte daraufhin die Party für eröffnet. Ausreichende Weinvorräte hatten wir immer dabei. Die Verlegenheit der Gastgeber, die meistens schon in Hausklamotten steckten oder sich im ersten Moment sogar in Unterwäsche zeigen mußten, war herrlich. Kraft unserer guten Laune brachten wir sie bald dazu, den Überfall als eine Geste der zwischenmenschlichen Güte und Wärme zu akzeptieren — für eine Weile jedenfalls. Die Stimmung kippte aber irgendwann, was unvermeidlich war. Mein meisterironischer Vater konnte es nicht lassen, die Gastgeber zu provozieren, und wurde mit der Zeit immerbissiger. Er machte sich beispielsweise über die Wohnung der Leute lustig oder darüber, daß die beiden Eheleute einander inzwischen immer mehr ähnelten.
— Wer von euch ist eigentlich Vaclav?
Ungehemmt plauderte er auch gern irgendwelche Intimitäten von früher aus, die die Ehefrau seines ehemaligen Freundes nie hätte erfahren sollen, beschämte diesen Menschen so lange, bis wir hinauskomplimentiert wurden. Bei einem anderen Besuch ging es dank ausreichender Alkoholisierung sehr schnell zur Sache. Unser Gastgeber war ein zwei Meter großer Elektronik-Ingenieur, ein vielbeschäftigter Erfinder und ein Lamm von Mann, die Gastgeberin eine zierliche seelendrahtige Frau.
— Paßt ihr auch sonst ganz gut zusammen? fragte mein Vater.
— Wie bitte?
— Ich meine da unten, Pavel ist doch so riesig.
Zu einem Wettbewerb um die schönsten Männerbeine kam es nie. Mit Vaters Beispiel vor Augen probierte ich wenigstens, einiges an Alkoholmengen zu ertragen. Mich mit ihm zu messen kam für mich allerdings nie in Frage. Wieviel mein Vater trank, wenn er mal die Arbeit schwänzte und den ganzen Tag nichts anderes tat, als zu trinken, erfuhr ich erst später von seiner erleichtertverwitweten Frau. Man hatte sie manchmal kurz benachrichtigt: HERR INGENIEUR, ihr Mann, liege vor dem Lokal — und habe nicht bezahlt. Dank dieses Umstands gilt als verbürgt, daß mein Vater es in seiner Hochphase schaffte, vierzig halbe Liter Bier am Tag in seinen Bauch zu gießen. Also zwei volle Zehn-Liter-Eimer. Um das vielleicht besser zu verstehen: In den Tiefen seines Herzens wünschte er sich im Leben nichts anderes mehr, als irgendwann ein ernstzunehmender Schriftsteller zu werden.
In seiner Jugend war mein Vater ein harter Kampfsportler gewesen, später schwärmte er gern davon. Aus seiner aktiven Jiu-Jitsu-Zeit gab es auch einige martialische Fotos. Als ich klein war, konnte er mich vor allem damit beeindrucken, daß er mich zu Demonstrationszwecken gnadenlos auf den Fußboden schmiß. Er tat es aber elegant und ohne jegliche Kraftanstrengung, er mußte nicht einmal seine überlegene Körpermasse einsetzen. Er täuschte eine seitliche Bewegung vor und zwang mich damit trickreich, den Schwerpunkt meines Körpers mitwandern zu lassen — zu meinem Fall reichte dann ein ganz leichter Tritt. Er trat ausgerechnet gegen den Fuß, auf den sich mein Balancegefühl vorausschauend verlassen wollte und auf den ich gerade mein Gewicht verlagerte — das heißt vorhatte zu verlagern.
Die Katerstimmung nach den nächtlichen Ausflügen an der Seite meines Vaters war furchtbar. Ich mußte früh aufstehen und in meiner Schlosserei erscheinen. Der Zauber des Metalls war inzwischen sowieso schon stark gemindert, meine weiteren Perspektiven waren unklar. Zum Schreiben fehlte mir die Kraft, und ich wußte, daß in einer so bedrückten Stimmung kaum die Literatur entstehen konnte, mit der sich die Menschheit beeindrucken und beglücken ließe. Meinen Karateverein mußte ich irgendwann feige verlassen, nachdem ich nach einem Kampfwochenende für mehrere Wochen untergetaucht war. Ich mußte mich einfach auskurieren und erholen, hatte mich aber gleichzeitig nicht entschuldigt, war auch nicht zum Arzt gegangen. Deswegen gab es für mich kein Zurück mehr. Man hätte mich dort — wenn ich nicht schlappgemacht hätte — sicher immer wieder so zugerichtet, daß ich es irgendwann geschafft hätte, auf den nicht genutzten Turnmatten in der Ecke sogar meiner Seele eine schützende Knorpelschicht zu verpassen.
Ich trainierte trotzdem für mich weiter, vor allem die Schläge. Ich trainierte immer so lange, wie es mir meine schmerzenden Gelenke erlaubten. Wenn sich meine Fäusteerholt hatten, machte ich weiter — und konnte eines Tages sogar einen Erfolg verbuchen. In meinem Zimmer schlug ich oft auf die gleiche Stelle einer Seitenwand, es war die Wand zum Nebenhaus hin. Der Putz hielt dort gut zusammen, weil er noch aus alten Zeiten mit einer Stofftapete bespannt war. Diese Wand war — gegen alle Regeln der Baukunst — relativ dünn, das wußte ich aber schon. Tante Eva hatte mir manchmal Beschwerden der Nachbarn überbracht, die sich über die dumpfen Schläge in ihrer Küche gewundert hatten. Daß die seitlichen Wände des Hauses so dünn waren, war einmal auch meinem Onkel bei seiner Heizungsaktion zum Verhängnis geworden — wenn auch am anderen Ende der Wohnung. Gebaut wurde unser Haus außerdem mit einfachem Kalkmörtel ohne Zement; das hatte Onkel ONKEL damals schon diagnostiziert. Daß bei meinen Übungen die von mir bevorzugte Stelle mit der Zeit etwas nachgegeben hatte, merkte ich natürlich — aber gerade weil sie nachgab und weil sie inzwischen etwas weichgeklopft war, boxte ich ausschließlich nur dorthin. Bis sich diese Stelle eines Tages ruckartig vertiefte. Ein Ziegel schob sich mehrere Zentimeter in die Wand hinein und drückte den unglücklichen Menschen im Nebenhaus den Putz von der Wand. Ein ganzer Fladen Mörtel fiel angeblich in irgendwelche gerade aufgetischten Suppen.
Als ich einmal wieder mit der Faust in die Wand schlug, schlug ich so heftig und unglücklich, daß ich mir ein Gelenk samt Gelenkkapsel beschädigte. Als ich das Knacken hörte, spürte ich — neben dem Schmerz — auch einen angenehmen psychischen Ruck. Mir ging es plötzlich deutlich besser als noch einige Sekunden davor — wie unserem russischen, sich mit seinem Jagdmesser immer wieder abstrafenden Familienfreund Jossip. In einem hellen Moment der langsamen Rekonvaleszenz meiner Faust ging mir einmal auf, daß ich mit meinen Schlägen wahlweise auch Mutters Gesicht hätte zertrümmern können. Das Wissen darüber, was sie inden Lagern durchgemacht hatte, hemmte mich dabei überhaupt nicht. Über meine Gnadenlosigkeit wunderte ich mich natürlich, schwor mir aber, sie lebenslänglich geheimzuhalten.
Wegen meiner schmerzenden Hand war ich lange krankgeschrieben und mußte meine Handgelenke konsequent schonen. Was ich in dieser Zeit allerdings problemlos üben konnte, waren Luftschläge. Wenn mir danach war, wenn ich unbedingt meine Wut loswerden wollte, konnte ich in die Luft schlagen, wie ich wollte. Möglichst mit der ultimativen Karate-Wucht, die sich bekanntlich im ganzen Körper zu sammeln hat und letzten Endes geistiger Natur ist. Gya-ku-zuki, Oi-zuki, Nagashi-zuki, Kizami-zuki, Ren-zuki, Dan-zuki, Morote-zuki, Age-zuki, Ura-zuki, Kagi-zuki, Mawashi-zuki, Awase-zuki, Yama-zuki, Heikö-zuki, Hasa-mi-zuki, Uraken-uchi, Kentsui-uchi, Haji-ate und so weiter. Seltsamerweise war das Schattenboxen fast genauso befriedigend wie das Üben mit Holz- oder Mörtel-Vollkontakt. Bei diesen Übungseinheiten erschien vor meinem fernöstlichen Auge oft meine Erzeugerin, ausgerechnet sie, immer wieder. Ich übte weiter und versuchte, ihre phantasierte Präsenz zu ertragen. Bei meinen lächerlichen Lufthampeleien wurde mir aber auch klar, daß Mutter garantiert nur einen geringen Bruchteil meiner Wut verdient hatte. Ein Monster war sie nicht. Nur ich war langsam dabei, eins zu werden.