An sich hatten wir gar keinen zwingenden Grund, nach Polen anders als über die polnische Grenze zu fahren — also direkt nach Norden. Jetzt waren wir leider längst auf demWeg in die Deutsche Demokratische Republik. Die weiter westlich liegende Wegvariante via DDR hatte ich bei der Planung längere Zeit sogar favorisiert. Die Strecke wäre nicht wesentlich länger gewesen, die Straßen eventuell besser — und Christianstadt lag beispielsweise in der Höhe der Stadt Forst nur vierzig Kilometer hinter der Neiße. Meine Mutter wachte auf, zum Umkehren hatte ich keine Lust mehr. Ich sagte ihr nur, ich hätte mich spontan für eine andere Strecke entschieden. In Mutters verschlafenen Augen sah ich etwas Angst, die steilen Hänge links und rechts der Straße hatten tatsächlich etwas Bedrohliches, es begann zu regnen. Das ganze Bergtal sah an sich schon wenig einladend aus, und wie freundlich uns die vor uns liegende DDR empfangen würde, war unklar.
Aber das war lange nicht alles, was sich im voraus nicht abschätzen ließ. Aus dem ganzen KZ-Bekanntenkreis meiner Mutter — die übriggebliebenen» Christianstadtmädels «trafen sich regelmäßig — war in Christianstadt bislang niemand gewesen. Man war stolz auf uns und hatte uns gutes Gelingen gewünscht. Ich bekam von den Damen sogar einige Skizzen überreicht — leider stimmten diese Zeichnungen und Lagepläne kaum miteinander überein. Bei dem letzten gemeinsamen Treffen sahen uns einige der Frauen etwas mitleidig an. Niemand aus ihrer Verwandtschaft hatte sich vor uns auf den Weg gemacht, in der Jüdischen Gemeinde war einmal eine Gruppenfahrt im Gespräch gewesen, man hatte sie aber nie ernsthaft geplant.
Wir fuhren schweigend weiter, und meine Mutter, die nachts nur wenig schlafen konnte, übergab mir die ganze Verantwortung und schlummerte wieder ein. Als wir zum Grenzübergang Varnsdorf kamen, hielt ich auf der Seite einer unsinnig breiten betonierten Fläche. Leider nicht unmittelbar vor den Grenzerhäuschen, sondern viel zu weit abseits — vielleicht auf einem Schandplatz für ertappte Zolldelinquenten. Ich wollte erst einmal meine Mutter wecken.in Ruhe unsere Ausweise hervorholen und mir die Details der neuen Route einprägen. Das umliegende Areal war gespenstisch leer. Es sah danach aus, als ob sich hier einige Macken der kühl und planerisch denkenden Ostdeutschen ausgesamt hätten. Was Platzangst ist — oder von mir aus agoraphobische Depression — , wußte ich schon seit meiner ersten Überquerung des menschenleeren Alexanderplatzes an einem Sonntag in Ostberlin. Ob unser Auto noch auf dem tschechischen oder — so weit abseits und weit vorn — schon auf deutschem Boden stand, war unklar.
Gerissene Mangelwarenschmuggler hätten sich sicher nicht so auffällig verhalten wie wir, trotzdem erregte unser unlogisch abgestelltes Auto großes Mißtrauen. Aktiv wurde man aber nur in den deutschen Baracken; auf dieser Grenzlinie war man — was die slawischen Eindringlinge betraf — sicher schon einiges gewohnt. Den lethargischen Tschechen waren wir offensichtlich egal. Unser Drama konnte beginnen. Die DDR-Uniformen mit den oben aufgeplusterten und unten engen Breecheshosen, den hohen Schaftstiefeln, enganliegenden Jacken und durchgebogenen Mützenböden sahen den früheren Uniformen bis auf die Farbe und die fehlenden Hakenkreuze erstaunlich ähnlich. Aber Tradition ist Tradition, nach dem Krieg hatte man sich für diese Ähnlichkeit offensichtlich bewußt entschieden. Als die drei Nazi-Gestalten von zwei Seiten auf uns zukamen, erwachte das jüdische Mädchen neben mir aus schwerer Bewußtlosigkeit. Es riß die Augen auf, dann die Tür — und meine Mutter begann zu rennen, wie ich sie noch nie hatte rennen sehen. Vor dreiunddreißig Jahren war sie in der gleichen Gegend vom Todesmarsch geflüchtet, es war nur ein Stück weiter nördlich von Varnsdorf. Jetzt lief sie dummerweise nicht irgendwelchen Befreiern, besser gesagt der dröhnenden Front entgegen, sondern nur weg. Die auf eine derartige Dreistigkeit nicht vorbereiteten Männer rannten ebenfalls los, hatten gegen meine flinke Mutterallerdings keine Chance. Ihre Hosen und Stiefel sahen zwar zünftig aus, vor allem die engen Schaftstiefel waren aber nicht schnellauftauglich. Außerdem störte den einen seine Maschinenpistole, den anderen seine nicht korrekt verschlossene Stempeltasche, aus der bei jedem Sprung mehrere gelbe Karteikarten herausfielen — und der dritte Mann war einfach zu dick. Ich erstarrte und überlegte mir ein mannhaftes deutsches Wort, um meiner Mutter einen drohenden Schuß in den Rücken zu ersparen.
— Halt, stehenbleiben! brüllte ein Grenzer — preußisch streng und tierisch laut. Mein gesamter deutscher Wortschatz war kurzzeitig wie schockgefroren. Die militärische Diktion der Deutschen kannte man als Tscheche ausgesprochen gut — vor allem aus Kriegsfilmen, in denen man die Deutschen mit Vergnügen auf Deutsch brüllen ließ.
Mit Antikriegsfilmen wurde man als Bürger der Tschechoslowakei sowieso kontinuierlich und mehr als großzügig versorgt. Die Nazis wurden in ihnen von schmalgesichtigen DDR-Schauspielern gespielt, und wenn sie zwischendurch tschechisch sprachen, sprachen sie mit einem grauenhaften Akzent. So und nicht anders sprachen für uns einfach mustergültige Feinde — die mustergültigsten Feinde der ganzen Menschheit. Meine Mutter und ich waren plötzlich zurück im Krieg.
— Säßtafte! To je posledni farowäni! brüllte der Mann in einem unbeschreiblichen Tschechisch. Einer der Verfolger zog tatsächlich seine Waffe und schoß in die Luft.
— Das meine Mutter! brüllte ich endlich, SIE NUR SCHLAFEN!
In dem Moment schoß jemand von einer anderen Stelle zwei Leuchtraketen in den Himmel, Sirenen heulten los. Und man konnte bald beurteilen, wie gut die Deutschen auf meine Mutter vorbereitet waren. Aus irgendwelchen Buden rannten einige etwas unvollständig angezogeneMänner heraus. Diese Verstärkung hatte vorschriftswidrig keine Jacken an und kaute noch — ihre Waffen schien die ganze Mannschaft aber auch beim Essen nicht abgelegt zu haben. Die bepistolten Männer verstreuten sich im Gelände und kreisten meine Mutter ein.
Das Verhör war kurz und schmerzlos, meine Mutter brauchte im Grunde nur ihre Auschwitznummer an ihrem Unterarm zu zeigen. Wir bekamen Kaffee, und man bot uns wunderbares Schwarzbrot an — leider waren die Scheiben mit einer Wurst belegt, von der uns ein Schweinsgesicht anlächelte, und wir lehnten ab. Die gutgemeinten Belehrungen nahmen nebenbei kein Ende. Als wir herauskamen, erkannte ich das Auto nicht wieder. Eine andere Mannschaft — die technische Abteilung offenbar — nahm es, so gut es ging, auseinander. Alle Türverkleidungen waren abgenommen, alle Matten herausgerissen, Tank ausgepumpt, Reservereifen abgezogen und ohne Luft. Korrekt wie sie waren, öffneten sie unser Gepäck erst vor unseren Augen. Zusammenbauen sollte ich das Auto anschließend selbst. Nach der Intervention eines Offiziers half man mir aber.
Wir überlegten kurz, zurück nach Prag zu fahren, wollten aber keine Feigheit vor dem Feind zeigen. Außerdem sah das Wetter wieder besser aus, und es gab auch die Möglichkeit, Geld zu tauschen. Wir passierten die Grenze, und ich konnte endlich in Ruhe meine Karten studieren. Die DDR-Route kam mir jetzt sogar günstiger vor als die polnische, auf alle Fälle war sie weniger bergig. Die vor uns liegende Strecke müßte außerdem eine gutausgebaute Hauptstraße sein. Auf dem Weg lagen Zittau und Ostritz, nach Polen wollte ich anschließend über den Grenzübergang in Görlitz. Und in Zgorzelec kämen wir dann wieder auf die ursprünglich anvisierte Route zurück. Wir fuhren los und sahen uns unterwegs alles neugierig und genau an.
— Das war hier alles slawisch, dieses»-tz «ist eigentlich»-ce «wie Roudnice. Weiter westlich endet wieder alles mit» ow«, lenkte meine Mutter das Gespräch vom Eigentlichen ab — uns erwartete noch der nächste Grenzübertritt.
Nachdem wir einige Ortschaften passiert hatten, bekam ich das Gefühl, im Land der ostdeutschen Demokraten ginge irgend etwas streng Seltsames vor sich, was ich aus meiner Heimat überhaupt nicht kannte. Hier schien die Realität dergestalt zu stocken, daß sich alles Lebendige mehr oder weniger versteckt hielt, sich in Behausungen einbunkerte oder in Erdlöchern einmietete. Und dort in den Hohlräumen sich vielleicht zusätzlich das Schrumpfen verordnete oder sich für den Wiedereintritt in die Oberflächenatmosphäre darin übte, durchsichtig zu werden. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, alle potentiellen Zuckungen und Regungen würden sich, falls es sie da oder dort eventuell gab, meinen egal wie weitwinklig schweifenden Blicken und meinen gezielten Fokussierungen geschickt entziehen. Aber woher kam diese Leere tatsächlich? Alles Lebendige konnte sich doch nicht die ganze Zeit mit Erdwühlen, Schrumpfen oder mit transluzidmachendem Lichtfluten beschäftigen. Mir fiel noch eine weitere Erklärungsvariante ein: Alles zuckend Lebendige könnte eventuell mit Spezialbulldozern zur Seite geschoben, sauberkantig geschichtet auf Paletten verladen und weitab aller Ausflugsstrecken abgestellt worden sein.