Ich kannte das flache Land DDR im Grunde nur vom Zug aus, war dort nie quer durch kleine Städte und Dörfer gefahren. Wie paradigmatisch der menschenleere Alexanderplatz war, konnte ich nicht ahnen. Jetzt sah ich, daß auch auf zentral liegenden Marktplätzen oder singulären Hauptstraßen kleiner Dörfer genau die gleiche Leere um sich griff. Zusätzlich wirkte auch die flächendeckende zwanghafte Ordnung und Sauberkeit — trotz lokal begrenzter baulicher Mängel — undurchschaubar beängstigend. Meine alte Alexanderplatz-Beklemmung war wieder vollständig wach. Die Vorgärten wirkten wie gekämmt, häßliche Zäune warenschmuck gestrichen, Auffahrten abgezirkelt und alles übrige ähnlich perfekt geglättet und saubergefegt. Und wenn ich das Auto abbremste und genauer hinsah, entdeckte ich in den vorgelagerten Gärten tatsächlich keinen einzigen Unkrauthalm, keine abgefallenen Blätter oder vertrockneten Blütenblättchen. Deutscher Boden — ALLES SCHWARZ! Auf einem Grundstück sah ich einige großgewachsene Tannen, also ein kleines Wäldchen — und der Boden dieses Wäldchens machte allen Ernstes einen fast besenreinen Eindruck. Ich hielt an und wollte mir dieses Stück Unnatur noch einmal ansehen. Tatsächlich lag dort keine einzige trockene Baumnadel herum. An eine der Tannen stand sogar ein einsatzbereiter Besen gelehnt. Niemand kam auf mich zu, nichts rührte sich, nicht einmal eine Gardine bekam Zuckungen.
— Vielleicht bringen sich hier die Menschen in großem Stil um, um der Welt noch etwas mehr Ordnung zu spendieren oder für jüngere Mitmenschen Platz zu schaffen. Und die Rentenkasse würde dadurch auch stark entlastet! Gute Genossen sterben doch mit fünfundsechzig, nicht wahr?
— Wie das? Was spendieren? fragte meine Mutter unkonzentriert.
— Oder die Leute kasteien sich hier in Eigeninitiative — eben mit dieser Reizarmut und Leere. Pflichtbewußt, beladen mit schlechtem Gewissen und kostengünstig obendrein. Meine Mutter war von der Gekämmtheit des Dörfchens auch angewidert, wollte darüber aber nicht weiter scherzen, wir fuhren weiter. Es war Sonnabendmittag, alle aßen eventuell gerade ihr Mittagessen — und wenn sie es momentan tatsächlich taten, taten sie es extrem pünktlich. Die DDR sah hier jedenfalls wie nach dem Einschlag einer Neutronenbombe aus. Etwas später wirkte diese strenggebürstete Welt aber immer noch nicht viel lebendiger. In einem Dorf stiegen wir aus und liefen kurz herum. Die Backsteinkirche gefiel uns, der neben ihr liegende Friedhof wirkte idyllisch.sah regelrecht einladend aus. Was wir dort entdeckten, taugte allerdings wieder eher zum Gruseln. Auf dem Gelände tobte offenbar ein tödlicher Konkurrenzkampf — und es mußte tatsächlich ein knochenharter Wettbewerb sein, der dort ausgetragen wurde. Ein Grab war schöner und abgezirkelter als das andere, ordentliche Bepflanzung überall, ich konnte keine Unregelmäßigkeiten entdecken, kein Grashalm sproß dort, wo er nicht wachsen sollte. Pflänzchen, die man als UNKRAUT bezeichnen könnte, gab es auch im weiten Umkreis der Gräber nicht. Auf den Wegen zwischen den Gräbern sah man nicht einmal Schuhabdrücke — auch der pflanzentote Hauptweg, auf dem wir liefen, war frisch geharkt. Wir hinterließen eine schändliche Doppelspur.
— Diese Wege sehen aus wie Todesstreifen, oder? Und wir sind hier schon wieder die Grenzverletzer — heute zum zweiten Mal.
Jeder Winkel des Friedhofs wirkte wie geleckt, bis in die letzte Ecke war nichts unberührt gelassen worden. Und nach dem Beenden der verbissen-agilen Vernichtungspflege mußten die Menschen ihre Harken hinter sich her gezogen haben. Und wie gerade! Sie schlenderten dabei nicht einmal, keine zufällige Abweichung war zu sehen. Aber auch alle vegetationslosen Zwischenräume auf den Gräbern selbst waren ohne jegliche Ausgelassenheit beharkt worden — bei ihrer geometrischen Schraffierung hatte man sogar noch strenger auf Parallelität geachtet als auf den Wegen. Nur um die Krümmungen sah man eine mit ruhiger Hand geführte, der Rundung folgende Harkenspur. Da und dort gab es sogar Kratzmuster, die über Kreuz geführt worden waren. Mein Favoritgrab wies ein Rhomboidmuster auf. Das war eindeutig das Werk des ortsbesten Großmeisters, also des feingeistigsten Todesästheten unter den Entropiegeilen.
— Stell dir vor, sagte ich, Sartre und Camus treffen sich hier in der ostdeutschen Provinz und philosophieren überdas Leben, den Tod und die Hölle. Wäre das ein Theaterstück!
— Sicher großartig — nur total langweilig, meinte meine Mutter.
Wir fuhren weiter und bekamen langsam Hunger. Wir kannten Ostberlin ein wenig, wir kannten außerdem noch die Ostsseeküste. Mit dem Essengehen war es in Ostdeutschland nie ganz einfach, daß es aber so weit kommen könnte, daß man gar nichts zu essen bekäme, wußten wir nicht. Meine Mutter fragte einen Mann aus dem Auto heraus — er sah uns von Anfang an wie zwei Volltrottel an.
— Essen? Hier kann man nicht essen. Die Kneipe macht erst um fünf auf.
— Und gibt es wenigstens dann etwas zu essen?
— Bockwurst haben die sicher. Vielleicht auch Sülze? Ich weiß es nicht. Wir fuhren weiter, um es woanders zu versuchen.
— Hast du etwas verstanden? fragte ich meine Mutter.
— Ja. Zum Glück war das kein Sächsisch.
In Görlitz kamen wir schließlich völlig ausgehungert an. Langsam war es eventuell zu spät zum Einkehren, hatten wir das Gefühl — bei der hier tickenden Strenge. Die Stadt war in einem fürchterlichen Zerfallszustand. Im Krieg war sie, wie man sah, zwar verschont geblieben, die sozialistische Zerstörungsfront war hier aber längst durchgezogen. Viele der Häuser hielten sich mit letzter Kraft noch gerade, in den Seitenstraßen waren aber einige von ihnen schon mit gewaltigen Balkenkonstruktionen abgefangen und gestützt worden. Abgeplatzter Putz, kaputte Dachziegel und Splitter von Ziegelsteinen lagen dort auf den Straßen weitgestreut herum, und die Menschen umkreisten sie — oder auch nicht. Trotzdem galt in diesen Seitenstraßen offenbar noch keine Helmpflicht. Wenn man irgendwo in offene Fenster der Parterrewohnungen hineinlugen konnte, herrschte dort dagegen eine perfekt minimalistische Starre.Eine solche Diskrepanz zwischen Innen und Außen war auf der Welt möglicherweise einmalig, dachte ich. In den Zimmern sah es aus, wie wenn bald geschlossene Formationen apokalyptischer Himmelsrichter ins Land einfallen sollten.
— Vielleicht stehen hier alle Mieter unter Dauerhypnose, sagte ich laut, ohne auf eine Reaktion meiner Mutter zu hoffen.
In einem Stück von Beckett hätte eine aufsicht-habende und in einer Wandluke steckende Frau — beispielsweise» Erstarrung-vom-Dienst «genannt — auftreten und endlosschleifend wiederholen können:»Hast du für den Fall deines Ablebens deinem Staat und deinen Kindern keine unnötige Entsorgungsarbeit hinterlassen? Stimmt in deiner Wohneinheit auch die schrank- und kommodenübergreifende Systematik beziehungsweise die Feinsortierung im Inneren deiner Schubfächer? Hast du alle Kleider, die du nicht mehr benötigst, der Volkssolidarität übergeben? — Hast du für den Fall deines Ablebens deinem Staat und deinen Kindern keine unnötige Entsorgungsarbeit hinterlassen? Stimmt in deiner Wohneinheit auch die schrank- und kommodenübergreifende Systematik…«