Zum Glück schickte uns jemand tatsächlich bald in Richtung einer SPEISEGASTSTÄTTE. Diese sollte gleich am Rande der Altstadt liegen und tatsächlich warmes Essen anzubieten haben. Unterwegs auf der Landstraße gab es mehrere Einrichtungen, die sich ebenfalls stolz Speisegaststätten nannten. In einer, die nicht geschlossen war, hätten wir sogar kalten Wurstaufschnitt essen können. Wir brauchten aber unbedingt eine warme Mahlzeit. Wir näherten uns jetzt dem Eßtempel, dieser Lausitzer Perle der Sättigungskunst. Schon das Gebäude wirkte kurios, so etwas wie dieses Restaurant kannte ich nicht. Die Ostdeutschen hatten nicht nur ihre standardisierten Kaufhallen aus massivem Beton gebaut, sie hatten genauso auch ihre FRESSHALLENaus Betonplatten hoch-, besser gesagt flachgezogen. Wir betraten eine solche Halle zum ersten Mal.
Auf der Straße standen einige Trabants und Wartburgs, aber nicht übertrieben viele, auf der Treppe und im Vorraum sahen wir niemanden. Das waren wir inzwischen gewohnt. Dann kam aber der Schock — das Innere des unendlich großen Raums war brechend voll, trotz der fortgeschrittenen Zeit. Offenbar speisten hier alle Menschen aus der weiten Umgebung, die sich — egal wie zeitversetzt — etwas Gutes antun, sich an diesem Tag eben verwöhnen lassen wollten. Und die meisten kamen eventuell aus gesundheitlichen Gründen zu Fuß. HIER WAREN SIE JETZT ALSO ALLE — ausnahmsweise aufs Bedientwerden eingestellt, hochkonzentriert, zentralisiert in einer echten KONZENTRATIONSGASTSTÄTTE. In weiter Ferne sah man eine Kellnerin mit einem riesigen Tablett herumstolpern, sonst keine weiteren Kellnerkollegen. Wir blieben kurz stehen. Alle eßwilligen Gäste saßen brav und geduldig, massive Abspeise-Verzögerungen hatte jede Familie offenbar fest eingeplant. Wenn es Gespräche gab, dann nur im Flüsterton. Gemessen an der appellplatzgroßen Fläche war es in dem Raum gespenstisch still. Als wir uns wieder in Bewegung setzen und die Schwelle der Ess-Arena überschreiten wollten, tauchte aus einer Seitentür zufällig ein Kellner auf, hob warnend seine freie linke Hand, riß den Mund auf — er mußte aber nicht anfangen zu schreien. Wir zogen uns blitzschnell zurück — schon aus Angst vor möglichem Leuchtpistolenfeuer.
— Wir werden sicher plaziert, das kenne ich schon, meinte meine Mutter.
— Bekommt man von einem so strengen Eßregime nicht gleich Verstopfung?
Wir standen im Rahmen der halboffenen Tür, saugten uns mit den Augen an den wenigen vorhandenen Tellern der bereits Speisenden und auch an den leeren Tischdecken derMasse der hungrigen Dulder fest und verstanden vieles nicht. In dem vor Begierigkeit überquellenden Raum tat sich viel zu wenig, um auf ein Ende des allgemeinen Wartedramas hoffen zu dürfen. Und nach einem glücklichen Ausgang unserer Hungerfahrt sah es noch weniger aus.
— Ich wollte nie wieder einen solchen Hunger haben, sagte meine Mutter. Der Hunger war im Lager das Schlimmste, für mich sogar schlimmer als die Wanzen.
Auf der großen Freßfläche war es zwar erschreckend still, eine dumpf aufgepeitschte Spannung verbreiteten die Beteiligten aber trotzdem. Alle warteten auf irgend etwas, nicht nur auf ihr Essen, hatte ich den Eindruck. Vielleicht wollten sie doch etwas anders leben und auch vollkommen anders abgefüttert werden — und die meisten wußten sicher, daß man theoretisch auch etwas würdiger bewirtet werden konnte. Aber sie warteten trotzdem wie eine Zuchtherde, die sich in ihr Schicksal seit Generationen gefügt hatte. Wohin, also in welche Kanäle diese Menschen ihre Spannungen ableiteten, war mir unklar. Vielleicht wandelten sie ihre innere Geladenheit direkt in kompakten Schenkelspeck um.
Endlich erschienen in der Tür zur Küche zwei neue Kellner — gleichzeitig, wie vom sozialistischen Himmel geschickt, konnte man meinen. Offenbar war ihre Eß- oder Rauchpause zu Ende gegangen. Diese beiden machten sich an die Arbeit, die Kellnerin mit dem stolprigen Gang und ihr strenggesichtiger Leuchtpistolenkollege verschwanden wieder — und waren in dieser Phase der Gästebekämpfung längere Zeit nicht zu sehen. Aber selbst wenn vier fleißige Kellner gleichzeitig im Einsatz gewesen wären, wären sie immer noch viel zu wenige gewesen. Nachdem in der Nähe der Eingangstür, vor der wir standen, ein Tisch beliefert worden war, konnten wir sehen, was man hier zum Sattwerden bekommen konnte. Und glaubten unseren Augen nicht.- Was tun sich die Leute hier schon wieder an? fragte meine Mutter trotz ihres Hungers mitleidig.
Die ostdeutschen Teller waren riesig, größer als die größten tschechischen. Und sie waren hochbepackt mit Unmengen von kaloriengeladenen Substanzen. Als erstes fielen uns riesige Portionen Fleisch und Sauerkraut auf. Das bestimmt dank Schweineschmalz glänzende Sauerkraut war zusätzlich mit vielen Speckgrieben verziert. Neben dem Krautgebiet lagen noch Berge von Rotkohl — ROH! Berge von Weißkohl — ebenfalls ROH! ein riesiger Haufen zerkochter Kartoffeln fand auf den Tellern auch noch genügend Platz. Außerdem breiteten sich auf den Tellern solche Mengen einer tiefbraunen Soße aus, daß die vielen eßbaren Inseln zu schwimmen schienen. Auf dem Kartoffelhaufen thronte zusätzlich ein etwa fünfzig Gramm schweres Stück Butter. Wie wir da und dort bereits erspähen konnten, aß man hier im Vorfeld grundsätzlich noch eine gehaltvolle Suppe — eine rötlich dickflüssige Abart eines Suppengulaschs mit Fleisch-, Wurst- und Gurkenstücken, auf dessen Oberfläche hohe Sahnehäubchen schwammen. Die meisten dieser Esser in Warteschleife hatten sie sicher schon weggelöffelt und dazu zwei angekohlte Toastbrot-Dreiecke gegessen, an manchen Tischen wurden diese allerdings noch zurückgehalten. Die Leute hatten sich also schon anfangs — und alles andere als schmalhansig — stärken können. Den in einem extra Schüsselchen servierten Einheits-Salat, der höchstwahrscheinlich wieder nur aus geraspeltem und etwas abgeschmecktem Weißkohl bestand, hatten die meisten auch schon verputzt. Vielleicht fühlten sich einige dieser Egal-was-Verputzer damit schon einigermaßen abgefüllt und wären am liebsten nach Hause geflüchtet, wenn sie sich das getraut hätten. Hätten es ihnen die anderen anwesenden Eßkader, also die auf Einheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — DRUSCHBA! — eingeschworenen Instanzen aber erlaubt? Und was ganz bestimmt auch nicht gestattet war: den Nicht-jedermannsSache-Weißkohlsalat samt Schüsselchen an die stellenweise undichten, mit Sauerkrautplatten wärmeisolierten Außenwände zu werfen. Jedenfalls sah man den tapferen Männern und Frauen an, daß sie litten — und wer weiß, wie lange schon; wie lange an diesem Tag, wie lange überhaupt. Also seit welcher Lebensminute nach ihrer Geburt.
Diejenigen, die ihr Hauptessen vorgesetzt bekommen hatten, arbeiteten sich auf ihren rundtablettgroßen Tellern langsam, aber konsequent durch. Sie gingen offenbar nur selten aus und wollten ihre im Grunde amtlich bemessenen und ihnen gnadenlos zugeteilten Portionen bestimmt auch aus Pflichtgefühl vertilgen — und vor ihren härtegeprüften Mitmenschen sowieso keine Schwäche zeigen. Außerdem hatten sie sich den Tisch hundertprozentig mit viel Geduld erkämpft und hatten davor eine Ewigkeit in der Schlange gestanden! Eine Tischgemeinschaft in der Nähe unseres Beobachtungspostens bekam wie aus heiterem Himmel — und sogar gleichzeitig — ein ganz anderes Gericht vorgesetzt. Und alle hatten das gleiche bestellt: fettriefende riesige Schnitzel, die groß wie großflächige Pußta-Palatschinken waren.
— Nein! rief meine Mutter plötzlich laut.
Viele der Freßsäcke blickten wegen dieses lauten Gefühlsausbruchs böse auf, und meine Mutter entschuldigte sich umgehend mit einigen höflichen Handzeichen, legte sogar ihre Hand kurz auf ihren ungezogenen Mund.
— Ist mir rausgerutscht, tut mir leid, sagte sie noch halblaut in ihrem Prager Deutsch.
— Was ist los? fragte ich.
— Die Schnitzel schwimmen auch in einer Soße, ich glaube in der gleichen braunen Soße wie das Schmorfleisch, stell dir das vor! Die knusprige Panade wird doch gleich vollkommen pappig — und das sind dann doch keine Schnitzel mehr, oder?