Die Fresserei ging weiter, schmutzige Teller wurden nach einer längeren Wartezeit sogar weggetragen — nicht ganzsystematisch, eher nach einem Zufallsprinzip, aber immerhin. Streng global betrachtet dauerte der allgemeine Stillstand aber doch weiter an. Dieser Eindruck wurde durch die Körperhaltung derjenigen Gäste unterstrichen, die eindeutig längst fertig waren, trotzdem aber regungslos sitzen blieben. Manche hatten sogar schon bezahlt, wie wir mit unseren eigenen Augen sehen konnten. So nahm ich schließlich an, daß die Sitzenbleiber ihre Tische mit Absicht blockieren wollten, und ich bekam Angst um uns. Die Atmosphäre im Raum war jedenfalls weiter voller offener Fragen, die mir und meiner Mutter das Warten nicht einfacher machten. Ich mußte an eine Situation in einem Prager Park denken, wo ich auf einer Bank Mayonnaisesalat essen wollte — direkt vom weichen Packpapier, in dem ich die leckere Pampe gekauft hatte. Ich aß das schmierige Zeug mit Hilfe eines Brötchens, ich aß es unelegant, unappetitlich und unverschämt — einfach eine Spur zu öffentlich. Und ich kam mir dabei — je mehr mayonnaiseverschmiert ich war — wie ein Sabberschwein vor. Viele schauten mich angewidert an, und ich verstand es erst einmal nicht ganz. Trotzdem mußte ich den nicht essenden Parkbesuchern nachträglich recht geben — an meinem Verhalten war natürlich etwas Anstößiges. Ich hatte mich wie ein überbedürftiger, ärgerniserregender Oralonanist und — exhibitionist aufgeführt. Vielleicht schämten sich diese Menschen hier in der ostdeutschen Freßarena auch, ähnlich wie ich damals. Zweihundert Menschen, die sich schämten — so gesehen konnte diese Art Speisung der Fünftausend keine gutchristlichen Schwingungen erzeugen. Meine Mutter zog sich von der Tür etwas zurück, ich blieb die ganze Zeit in der zur Hälfte offenstehenden Einlaßpforte stehen und versuchte, den Überblick zu behalten — nebenbei kam ich mir wie ein nicht ganz machtloser Blockältester vor.
Die schleppende Abfertigung der Betonsaalgemeinde kam partiell doch leicht voran, in manchen Territorien tat sichdagegen kaum etwas. Die dortigen Sättigungsgemeinschaften wirkten inzwischen vollkommen erstarrt. Bei meiner Supervision des Geschehens konzentrierte ich mich gelegentlich auf die Kellner, die eventuell — wie ich auf einem Plakat im Vorraum gelesen hatte — Gastronomiefacharbeiter hießen. Wenn die in dieser Einrichtung aktuell tätigen Facharbeiter gerade in Aktion waren, machten sie einen fast professionellen Eindruck, wirkten bei jedem ihrer Einzelauftritte aber extrem gehetzt — und wenn sie wieder verschwunden waren, sah man sie immer eine ganze Weile nicht wieder. Halfen sie zwischendurch etwa in der Küche aus und standen den mit Ohnmacht kämpfenden Köchen bei? Die Stimmung der Kellnerschaft wurde — trotz ihrer Absenz-, das heißt Gäste-Ausbiend-Zeiten — jedenfalls nicht besser, verschlechterte sich eher mit der Zeit, und besonders bei einem der Kellner hatte ich das Gefühl, daß er die in seinem Bereich ausharrenden Belästiger am liebsten mit Eimern voller soßenangedicktem Spülwasser verjagt hätte. Hinter uns tat sich plötzlich etwas. Ein für die Vorbereitung des Freßnachmittags abgestellter Gastronomiefacharbeiter schob große mehrstöckige Wagen heran, in denen sich diverse Torten mit unmenschlich hohen Schichten gehaltvoller Cremes und Füllungen befanden. Diese Arbeitskraft fehlte jetzt aber eindeutig im Saal! Das Kaffeetrinken stand bei den Ostdeutschen aber offenbar extrem hoch im Kurs. Das Kaffeetrinken und Kuchen-Allemachen war hier im Lande eventuell sogar ein tägliches MUSS, dachte ich — und an einem Wochenende durfte diese Eßpflicht natürlich auch nicht unterbleiben. Aber wie stand es — eventuell kurz vor der Erbrechgrenze — um das nachträgliche sportive TRIMMEN des Volkskörpers? Unterwegs war mir zufällig ein Plakat zum Thema Volksgesundheit aufgefallen:»Jedermann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport!«
Endlich erhoben sich zwei Familien aus dem mittleren Abschnitt des Saals und wackelten in Richtung des Ausgangs — also mir und meiner Mutter entgegen. Die Frauen hatten unglaublich pralle Ärsche und zusätzlich seitlich hervorspringende Hüften und Schenkel. Diese Körperpartien waren so mächtig und überproportional, daß sie den Charme von unter den Röcken linksseitig und rechtsseitig angebrachten Kinderbadewannen verbreiteten. Die Männer trugen wiederum so viel an körpereigener Biomasse um ihre Brustkörbe herum, daß ihre abstehenden Arme wie leicht gelüftete Flügel wirkten — ähnlich wie man es bei den ans Fliegen denkenden Putern kennt. Diese Mannesmänner mußten durch die Reihen der Sitzenden daher mit seitlich verdrehtem Oberkörper schreiten. Dabei stießen sie mit ihren vollen und schwer überblickbaren Rundbäuchen gegen etliche Schultern der Sitzenden oder beschädigten die eine oder andere ordentlich hergerichtete Kinderfrisur. Eine Weile war wieder kein einziger Kellnersoldat im Einsatz, eventuell wollten sich diese verzweifelten Bewirtungskämpfer über ihren Haß miteinander austauschen und sich dabei ihre Verzweiflungstränen abwischen. Was ihre Facharbeiterqualen anging, hatten sie unsere volle Sympathie — einen Rückzug anzutreten und das Warten aufzugeben kam für uns Hungergebeutelte trotzdem nicht in Frage.
Wir trauten uns natürlich nicht, den Raum eigenmächtig zu betreten. Die freigewordenen Tische waren sowieso noch voller schmutziger Teller, ich behielt sie genau im Blick. Kurz mußte ich den Mastodonten, die hinauswollten, Platz machen — und mich streifte dabei kurz die Befürchtung, sie könnten in meiner Nähe einen Kreislaufkollaps bekommen. Sie alle hatten gerötete Gesichter, von Bluthochdruck tränenvolle, leicht hinausgedrückte Augäpfel, außerdem dicke Hälse, die aus verschwitzten Hemden quollen. Zu unserem Erstaunen verließen sie das Gebäude aber nicht vollzählig. Einige wollten sich draußen vielleicht kurz die Beine vertreten, zwei kleine Abordnungen blieben überraschenderweise im Vorraum zurück und pflanzten sich schweigend hinteruns hin. Und wir wußten gleich Bescheid. Auch nachmittags würde es Probleme bei der Eroberung von Tischen geben. Halb Görlitz und Umgebung würde die Halle stürmen und mit den fetten Cremetorten die Sehnsucht nach dem finalen oder wenigstens halbfinalen Glück stillen wollen. Und tatsächlich studierten die Leute hinter uns die in den zwei Tortenmobils thronenden Kreationen, trafen schon ihre Vorauswahl und verglichen murmelnd die Anzahl und die Höhe der einzelnen Cremeschichten. Ich stellte mir vor, wie sie dann abends vor dem Fernseher noch ihre fetten Chips, gehaltvollen Nüsse oder klebrigen Schokoladenriegel knabberten und dazu ihre ostdeutsche Süßcola mit Vodka oder ihr Bier tranken. Und wenn nachts der Hunger doch noch wiederkam, schoben sie sich sicher dicke Stullen mit Kalbsleberwurst voller Schweinefett in die Hälse.
Als Berufsträger in den Bergen hatte ich mich mit der Ernährung ausgiebig beschäftigen müssen, um beim Lastenschleppen nicht zusammenzubrechen. Einige Neuzugänge, die nur für die Ferien kamen und ihre Kräfte testen wollten, ließen sich manchmal nicht beraten, aßen früh nur Haferflocken oder ein Stück Brot. Oft mußten sie unterwegs ihre Kraxen stehenlassen und noch einmal kilometerweit frühstücken gehen. Ich wußte ziemlich genau, wo wie viele Kalorien steckten. Und Kalorien holten wir uns damals vor allem aus Fett. Auch alte slowakische Bauern beurteilten damals Wurstsorten — selbst wenn es sich dabei um etwas Edles wie die ungarische Salami handelte — nach ihrem Fettgehalt. Als Träger mußten wir viel Fett essen, wir suchten damals regelrecht nach Wurstsorten, in denen genügend versteckte Energien lauerten. Dann konnten wir die Touristen beeindrucken, wie wir mit siebzig Kilo auf den Schultern zwar nicht sehr schnell unterwegs waren, aber trotzdem immer noch aufrecht standen. In den Steigungen schafften wir Hunderte von hohen Stufen hintereinander — bis zum nächsten regulären Halt. Wir gingen ruhig undohne seitlich zu schwanken. Dazu zwangen wir uns nicht unbedingt aus Vorsicht, sondern um nicht unnötigerweise unsere Kräfte zu vergeuden.