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Ich wollte mir den Anblick des flächendeckenden Eß-kampfes kurz ersparen und wandte mich zu meiner Mutter um.

— Der normale Mensch weiß einfach nicht, was er ißt. Er weiß nicht, wieviel an unsichtbarem überschüssigem Fett er tagtäglich verschlingt, wie viele Augen, Schlachtabfälle und undefinierbare Reste beispielsweise für die fein durchgedrehten Wurstsorten verwendet werden. Dieses Blaßrosa, wenn ich das schon sehe! Die todestolle Mortadella, der düstere Blutschinken…

— Bierschinken heißt das eher — und der ist hell.

— Würstchen bestehen bis zu fünfunddreißig Prozent aus reinem Fett, weißt du das?

— Nein.

— Und dann noch dieses unsägliche FRITTIEREN! Frittierte Leckereien saugen von dem Flüssigfett unglaublich viel auf — und zum Frittieren werden häßlich gesättigte Fette benutzt. Die ganzen fettigen Feinheiten und Fett-Unterschiede interessieren die Leute aber auch nicht.

Ich unterhielt meine Mutter mit meinem oecotrophologischen Wissen eine Weile, um uns die Zeit zu vertreiben. Ich hatte aber noch ganz andere Ideen, der Hunger brachte mich in Rage.

— In diesen sattmachenden Substanzen stecken unglaublich viele geheime Kräfte, glaub mir. Mit einem solchen Energieüberschuß könnte man auf Anhieb ganze Armeen auf Vordermann bringen und sie sonstwohin, diesmal vielleicht bis nach Wladiwostok marschieren lassen.

— Georg, ich kann nicht mehr zuhören, stöhnte meine Mutter.

— Eigentlich müßten diese Leute Eßbares aus ihrem Inneren eher abgeben, Nahrung einfach für andere produzieren,sich regelmäßig etwas abschneiden und an Hungernde verfüttern, oder? Oder sie könnten auf ihren breiten Schenkeln mobile Beete anlegen und dort Gemüse anbauen — was weiß ich, auf jeden Fall alles andere tun, als jeden Tag noch weiter zu essen.

Daraufhin erblickte ich plötzlich eine solche Sauerei, daß mir ein lautes und langes PFUUUUI! ausrutschte — und dieser Aufschrei war viel lauter als der längst verhallte meiner Mutter, der die soßenweichen Schnitzel leid getan hatten.

— Was macht er denn — co to delä? DER MENSCH GIESST SICH LIMONADENSIRUP IN SEIN BIER!

— Hast du das noch nie gesehen? SEI ABER LEISE, bitte. Es ist kein normales Bier. Hier essen die Leute sogar riesige Fettberge vom Schweineknie — der Anblick hätte dich heute bestimmt umgebracht.

Irgendwann kamen wir an die Reihe, unsere Vorfreude hielt sich aber in Grenzen. Auch wegen der wütenden Gesichter der Bedienung. Wir waren nicht aus Görlitz und waren extrem spät dran. Wir entschieden uns für die sättigende Einheitssuppe, auf die wir eventuell nicht allzulange würden warten müssen — also die Soljanka. Diese war offenbar noch nicht ausgegangen und kam überraschend schnell an. Frecherweise verlangten wir, als wir beliefert wurden, etwas mehr Brot. Was wir bekamen, war aber eine Belehrung über das streng geregelte Angebot. Schließlich zweigte man für uns aber doch noch eine — eine einzige — diagonal durchgeschnittene und leider pappige KALTE Toastbrotscheibe ab. Wir bedankten uns höflichst. Zum Hauptessen entschieden wir uns für etwas, was eigentlich eine Vorspeise war — Ragout fin. Meiner Mutter hatte es in der DDR einmal gut geschmeckt, und sie empfahl es mir. Es ging auch darum, schnell satt zu werden und möglichst schnell wieder zu verschwinden. Als wir bestellen durften, traute ich mich natürlich nicht, noch einmal Brot zu verlangen, bat dafür um eine Portion trockener Kartoffeln als Beilage.- Könnten wir trocken Kochkartöffeln noch haben? Eine Portie?

Der Blick des Kellners war tödlich.

— Sättigungsbeilage extra? Das sehen wir hier ÜBERHAUPT NICHT GERN!

Im selben Moment kam es zu einer seltenen Begegnung zweier Kellnerkollegen — und der gerade vorbeihuschende sagte wie nebenbei laut:

— Kartoffeln? Die Kartoffeln sind knapp, geht nicht.

— Sind die Geschäfte noch offen? fragte meine Mutter.

— Wie soll ich das wissen?

Beim Weggehen drehte sich der Mann wie ein Triumphator doch noch um und sagte:

— Alle Läden haben um diese Zeit längst geschlossen. Wir warteten auf unser Ragout fin und wußten, daß wir würden versuchen müssen, auf der polnischen Seite auf Brotraub zu gehen. Einige Konserven als Proviant für Notfälle hatten wir dabei. Aber vielleicht gäbe es in Polen sogar Spätverkaufsstellen. Wir warteten wieder endlos, und ich gab schuldbewußt zu, unsere Reise, was die Verpflegung anging, schlecht durchdacht und vorbereitet zu haben. In Polen könnte es, fiel mir nebenbei ein, irgendwelche Versorgungsprobleme geben.

— Wir sind als Tschechen einfach verwöhnt, tröstete mich meine Mutter. Bei uns kann man in jeder einfachen Kneipe gut essen.

Irgendwann bekamen wir ein Fläschchen Worcestersoße auf den Tisch geknallt. Danach tat sich wieder lange nichts. Nach weiteren etwa zwanzig Minuten erreichten uns die beiden bestellten, leider erschreckend kleinen Schüsselchen mit einer weißlichen, nicht leicht definierbaren Soßenmischung. Immerhin roch sie aber interessant, und wir konnten unser Glück kaum fassen. Ich stocherte kurz unter der Soßenoberfläche, entdeckte darin grüne, mir unbekannte Beeren, meine Mutter begann dagegen sofort zu essen.Plötzlich bekam sie einen unbeschreiblich entsetzten Gesichtsausdruck — wie ein kleines Kind, das in seinem Mundraum zum ersten Mal von einem dicken Erwachsenenhaar überrascht worden war. Mutter spuckte den Mundinhalt wieder aus, und wir beide entdeckten in unseren bescheidenen Ragout-fin-Schüsselchen dicke Schwarten, aus denen relativ lange Schweineborsten herausragten.

— Eigentlich macht man Ragout fin aus Hühnerfleisch, meinte meine Mutter.

An der Grenze waren wir an diesem Tag schon einmal im Krieg gewesen, jetzt kam er zum zweiten Mal auf uns zu. Wir würden uns beschweren müssen und mußten in dieser geladenen Atmosphäre mit dem Schlimmsten rechnen.

— Vielleicht steht uns eine Scheinerschießung mit einer Erbsenkanone bevor, versuchte ich die Stimmung zu heben.

Zum Glück tangierte uns im Parallelgang die einzige weibliche Fachkraft, sie hatte noch die sanfteste Ausstrahlung von allen. Ich winkte ausladend und erregt mit beiden Händen. Sie durfte uns jetzt nicht entwischen. Als sie angestolpert kam, merkte ich, daß sie stark kurzsichtig war.

— Sehen Sie mal bitte… das sind Borsten.

Sie verstand im ersten Moment nicht ganz, worum es ging, das Ragout fin war in ihrem Lokal sicher sehr beliebt. Sie beugte sich aber höflich nach vorn und untersuchte unsere Schüsselchen aus nächster Nähe. Ich untersuchte nebenbei ihren Busenansatz. Sie sagte dann nüchtern:

— Sie haben recht, das kann man wirklich nicht essen… ist aber berührt. Sie müssen beide Portionen bezahlen.

ich bekam giftig rote haare und brandwunden von der kochenden granatenfüllung

Nach dem Bewirtungsdrama fuhren wir zum Grenzübergang, wo es dank des sogenannten» kleinen Grenzverkehrs «relativ lebendig war. Die deutschen Traditionalisten in Uniform waren nicht verbissen, und wir überquerten die Neiße ohne Probleme. Die polnischen Landstraßen waren zum Schnellfahren nicht geeignet, waren aber viel besser, als ich erwartet hatte. Die künstliche Normalität von Ostdeutschland lag hinter uns, und obwohl in den Dörfern einiges nach Armut und hartem Leben aussah, fühlten wir uns beide wesentlich entspannter, unterhielten uns aber kaum. Viele Dorfleute waren zu Fuß unterwegs, hatten kleine Handwagen dabei — und die meisten außerdem Harken, Sensen, Äxte, Spaten auf ihren Schultern — , andere waren auf ihren Feldern oder an ihren Behausungen schwer beschäftigt. Dabei wirkten sie auch beim Anstreichen von Zäunen in Schieflage angenehm gelassen. Und ich fühlte mich dauernd, vor allem außerhalb der Dörfer, an vergangene Zeiten erinnert. Neben den üblichen großen Feldern sah man auch schmale, winzige, also nicht zusammengepflügte Handtuchfelder, die fast wie aneinandergereihte Gemüsebeete wirkten. Im gesamten Ostblock war die Kollektivierung mehr oder weniger rigoros durchgesetzt worden — ausgerechnet in Polen, wie auch in Jugoslawien, war sie gescheitert.