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Daß bei uns zu Hause alles Männliche kompromißlos ausgelagert werden mußte, schien mir richtig und konsequent zu sein. Männer hätten unsere Harmonie nur gestört. Sie hätten unser Zusammenleben durcheinandergebracht, hätten sicher auch die fundamentalsten Regeln gebrochen oder sich sogar angemaßt, neue Regeln einzuführen. Die Liebhaber meiner Mutter waren zwar nie ausgelagert worden, sie wurden aber auch niemals wirklich eingelagert. Dagegen machte sich Onkel ONKEL als ein Repräsentant aller Ausgelagerten sehr gut, verkörperte diese Rolle geistig wie auch durch seine Verortung ganz ausgezeichnet. Hinter seiner Schrankmauer steckte er im Grunde in einer Art Lagerraum. Seine Leidenschaft, Materialien für seine zukünftigen handwerklichen Aktivitäten zu sammeln, wurde ihm dabei leider zum Verhängnis. Als unser Keller bis zur Decke vollgestopft war, mußte er viele unersetzbare Fundstücke, alle den Schrottsammlungen entrissenen Ersatzteile und alle verwendungswürdigen Materialreste direkt in seinem Zimmer unterbringen. Dadurch wurden diese Dinge so etwas wie seine Mitgefangenen. Da Onkel diesen Krempel in stabile Kartons stopfte, konnte er sie gut stapeln — und mit ihrer Hilfe seine Schrankbarriere bis zur Decke aufstocken. Irgendwann war aber das Höhenlimit erreicht. Später engten die Kartons auch seinen Innenbereich ein. Onkels Schubfächer waren schon immer vollgemüllt, quollen oft über oder ließen sich überhaupt nicht mehr öffnen. Viele der unentbehrlichen Dinge waren wegen der nicht vorhandenen Systematik und fehlenden Kartonbeschriftung sowieso schwer zu finden, und der arme Onkel hauste auf immer sinnloser schwindendem Raum. Sein Lebensbereich glich zunehmend einem Recyclinghof, um nicht zu sagen einem Material-KZ. Die Rettung brachte etwas später sein geräumiger Bauernhof. Um ihn — einschließlich aller Nebengebäude — ebenfalls zuzumüllen, brauchte er dann erstaunlich wenig Zeit, höchstens zwei Jahre.

Als eine Art stabiles männliches Vorbild blieb mir praktisch nur mein extramuraler Vater. In ferner Vergangenheit war er für mich eine Ikone gewesen, und egal, wie stark angeschlagen er von Anfang an war, eine Zeitlang war er eine. Dabei waren seine Qualen noch undurchschaubarer als die des Onkels, qualitativ waren sie sowieso völlig anderer Natur. Und obwohl mir das Wesen meines Vaters etwas näher war, war er als eine Leitfigur leider noch weniger brauchbar als mein Onkel. Und das will schon etwas heißen.

Mein Vater mußte nicht erst in eine quälende Enge getrieben werden, er steckte in seiner stinkigen Sackgasse sowieso seit langem fest. Dort arbeitete er konsequent an seinem Ende, zerfiel langsam vor aller Augen, bis er dann reif war und starb — mit nur fünfzig Jahren auf Bauch und Buckel. Er war ein krankhafter und unverbesserlicher Lügner, ein Wrack voller destruktiver Ironie und beim Bezahlen an den Tankstellen zitterten ihm immer die Hände. Wenn er Auto fuhr, trank er nämlich nicht und mußte seinen Tremor in Kauf nehmen. Wegen dieses Zitterns dachte ich als Kind lange, daß es ihm — ausgerechnet wenn es um Benzin ging — um die grünen Hundertkronenscheine leid tat. Ganz logisch war das natürlich nicht, da er sehr gut verdiente. Er war bei der» Geheimpolizei«, wie es unter uns Jungs hieß, wobei alle, die solche Väter hatten, deren Beruf offiziell als» Staatsangestellter «anzugeben hatten. In Gaststätten zitterte mein Vater nicht, beim Einkaufen auch nicht. Wenn wir in der Stadt unterwegs waren, verschwand er regelmäßig in dunklen Eckkneipen und kam im Handumdrehen lächelnd wieder heraus, als hätte er dort eine partielle Absolution erhalten. In seinen Augen dümpelte das schlechte Gewissen.

Sein mitteldicker Bauch war ein nicht zu leugnender Schandfleck an ihm, insgesamt fand ich ihn körperlich lange Zeit eher anziehend. Seine Schultern wirkten kraftvoll, die Polsterung seines voluminösen Brustkorbs — vorn wie auf dem behaarten Rücken — konnte man bei gutem Willen für Muskulatur halten. Seine Beine waren schlank und tadellos. Und das wußte er auch. Wenn bei ihm ausnahmsweise Besucher auftauchten, zog er schnell eine Schnapsflasche aus einem der Kleiderschränke heraus, und bald danach — das war die Regel — ließ er seine Hose fallen und zwang den oder die männlichen Besucher, das gleiche zu tun. Der Schönheitswettbewerb um die schönsten Männerbeine konnte beginnen. Mein Vater war dabei in seinem Element und kannte sich nicht nur in den strengen Beurteilungskriterien gut aus, als Siegertyp beherrschte er auch alle psychologischen Tricks, die in jeder modernen Kampfdisziplin eine große Rolle spielen. Er nutzte beispielsweise geschickt die Verlegenheit seiner nicht ausreichend angetrunkenen Gegner, und wenn es ging, flirtete er nebenbei mit ihren Frauen. Beim eigentlichen Wettbewerb streckte mein Papa abwechselnd und ausgesprochen graziös seine Beine in die Luft, drückte zwischendurch die Fußspitzen gegen ein Sofa. Besonders in diesen Momenten spannte er gekonnt seine Muskeln an und brachte sie da und dort, besonders aber an den Waden, in eine wellenartige Bewegung. Er gewann immer. Daß sein Bauch sich nicht waschbrettartig wellte, zählte nicht. Alle lachten die ganze Zeit, bis ihre Wangen steif wurden und eine häßliche Dauerspannung eingraviert bekamen. Ich lachte auch, weil man bei Vaters Auftritten nichts anderes machen konnte als lachen.

Wenn ich einen ähnlichen Wettbewerb hätte ausrichten dürfen, hätte ich — trotz meiner Ängste vor rachgierigen Killerbäuchen — unbedingt die männlichen Bauchwölbungen bewerten wollen. In der Stadt grassierte galoppierende Bauchverfettung, und ich hätte auf diese Seuche tatsächlich gern aufmerksam gemacht. Ich sah, daß sich viele Männer beim Laufen weit nach hinten neigten, um damit der gefährlichen Verschiebung ihres Schwerpunktes entgegenzuwirken. Sie waren, da ihnen ihre Bäuche den Blick versperrten, nicht in der Lage, die vielen Unebenheiten auf den Bürgersteigen richtig einzuschätzen, sie übersahen oft kleine Kinder oder kleine bis mittelgroße Hunde. Zur Freundlichkeit auf den Straßen trugen sie daher wenig bei. Bei manchen von der Quellhefe Befallenen kam eine moosige Fettschicht sogar unter ihrer Stirnhaut zum Vorschein, ihre untere Gesichtshälfte war sowieso schon aufgequollen — und in ihren Augenhöhlen lagerte ebenfalls viel Abfall. Und auch die jüngeren Männer zeigten schon, in welche Richtung sie weiterwachsen würden — nämlich nach vorn. Am liebsten hätte ich diese jungbäuchigen und noch zu rettenden Anfänger vor Fettbefall und Muskelabschlaffung gewarnt und ihnen eingehämmert:

— Ihr wollt doch euer Leben lang in die Frauen tauchen, oder etwa nicht? Denkt daran! Ihr müßt sogar tief genug in sie hineingelangen können, wenn euer Leben einen Sinn und eine Art Fortsetzung haben soll!

Und wenn ich das folgende, von der Brauindustrie gut gehütete Geheimnis schon damals gekannt hätte, hätte ich noch hinzugefügt:

— Vorsicht, Männer! Im Bier stecken massenhaft weibliche Hormone — nicht einfach nur Gerste, Hopfen und Wasser! Vom Bier bekommt ihr nicht nur schwere Bäuche, sondern auch üppige Brüste!

Meine Ernährungsängste und Verformungsphantasien brachten mich im zarten Alter dazu, pausenlos auf meinen Bauch zu achten, und schon zu Urzeiten ängstigte ich mich um meine Figur. Wenn ich etwas mehr gegessen hatte und spürte, wie sich meine Bauchdecke wölbte, zog ich sie mit Gewalt sofort wieder ein. Ich wollte nicht zulassen, daß meine Muskulatur nachgab, ich durfte nicht wie die vielen Nilpferde um mich herum lockerlassen und vor der Ausdehnungs- und Schwerkraft kapitulieren.