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Der erste Eindruck von Krzystkowice war vollkommen unspektakulär. Am Stadtrand gab es einige kleinere Industriebetriebe, ansonsten sah die Stadt überhaupt nicht wie eine richtige Stadt aus. Und sie verriet nicht, in welcher Richtung sich so etwas wie ihr Zentrum befinden könnte.An einer weitläufigen und wenig belebten Kreuzung bog ich — nur dem Gefühl nach — nach rechts ab, wo ich den Fluß vermutete, und bald fuhren wir schon über eine Brücke. Rechts auf dem anderen Ufer stand eine Kirche, oberhalb der Kirche gab es einen Hang, auf dem einige Kühe weideten — Häuser gab es keine mehr, links und rechts sah man hier nur Wälder. Laut meiner Karten hätten hier entweder Ausläufer von Krzystkowice liegen oder wenigstens schon Nowogröd/Naumburg beginnen müssen. Die Landstraße führte relativ steil nach oben, dort auf der Anhöhe lag die nächste ruhige Kreuzung — mitten im Grün. Wir sahen niemanden, den wir hätten ansprechen können. Der hiesige Mischwald wirkte etwas lieblicher als die endlose Kiefern- und Tannentaiga, die wir vor Krzystkowice durchquert hatten. Links von uns schimmerten zwischen den Bäumen irgendwelche Mauern, ich fuhr also nach links. Bei den Mauern handelte es sich dann tatsächlich um die ersten Häuser eines Städtchens. Nach dreihundert Metern fuhren wir schon über einen viereckigen Platz, der von niedrigen Kleinstadthäusern umgeben war.

— Das kann unmöglich Christianstadt sein, sagte meine Mutter. Hast du irgendein Schild gesehen?

— Wir sind sowieso auf der falschen Flußseite, sagte ich. Es ist ganz bestimmt Nowogröd.

Wir entdeckten zum Glück einen offenen Lebensmittelladen, kauften ein und aßen auf einer Bank etwas Brot, Käse und den undefinierbaren Inhalt einer kleinen Büchse. Als Nachtisch gab es die berühmten polnischen» Kuhbonbons«- milchig-weiche Karamelbonbons namens» Kröwki«. Danach fuhren wir wieder langsam zum Fluß hinunter — auf die Bober-Brücke zu. Auf der von Leere umgebenen Stadtkreuzung hinter dem Fluß bog ich nicht wieder dorthin ab, von wo wir hergekommen waren, und fuhr geradeaus in Richtung Westen. Die Straße war beidseitig bebaut, man hatte aber keinesfalls das Gefühl, sich im Zentrumeiner Stadt zu befinden. Als wir uns einem Bahnübergang näherten, sah sich meine Mutter mehrmals unruhig um, erkannte aber nichts. Bei dem riesigen zugewucherten Bahngelände konnte von einem lebendigen Verkehrsknoten kaum die Rede sein. Ein kleineres Bahngebäude am Rande schien zugerammelt zu sein, überdachte Bahnsteige gab es nicht, niemand wartete hier oder lief mit einem Koffer herum. Nur ein einziger Bahnsteig sah danach aus, daß er regelmäßig betreten wurde. Wir stiegen aus. Das überdimensionierte Gelände mit den vielen Schienensträngen wirkte im Verhältnis zur Größe der» Stadt «unanständig. Christianstadt schien mehr eine Schienenlandschaft als eine Stadt zu sein.

— Alles wegen der Fabrik, die Züge fuhren überall quer durch die Wälder.

— Wo ist aber dein Christianstadt? Ich hatte mir unter dem Namen eine richtige Stadt vorgestellt.

— Wir sind zur Arbeit immer nur durch den Wald marschiert. Den Platz im Zentrum habe ich vielleicht nur zweimal gesehen.

— Es gibt hier aber gar keinen Platz, nicht einmal das. Hier ist die Stadt schon wieder zu Ende. Wir müssen zurück.

Wir kehrten um, und ich stellte das Auto auf einem kahlen Gelände vor der uns inzwischen bekannten Kreuzung ab. Ein Stück neben uns standen etwas zurückgesetzt mehrere häßliche Neubauten. Auf der anderen Straßenseite sah ich eine schräg verlaufende Reihe von einstöckigen alten Häusern — und beim genauen Hinsehen machten diese tatsächlich den Eindruck, daß sie einmal einen kleinstädtischen Marktplatz eingegrenzt haben könnten. Vor dieser Häuserreihe standen einige Bäume mit dichten Kronen, sie gehörten zu einer vernachlässigten Parkanlage. Und ich erkannte endlich, wo wir waren — wir standen tatsächlich auf dem Christianstädter Marktplatz. Hinter der grünen Park-Oase, weiter in Richtung des Flusses, entdeckte ich dienächste Häuserreihe, also vermutlich die zweite Seite des ehemaligen Platzes. In den einigermaßen erhaltenen Häusern dieses» Marktes «gab es kleine verschlafene Geschäfte. Auf unserer Seite der Zufahrtsstraße war es dagegen bis zu den Neubauten kahl, die Stadtmitte war hier vollkommen gesichtslos. Genauso hatten wir das Zentrum von Christianstadt vor kurzem, zumal vom fahrenden Auto aus, auch wahrgenommen. Unser abgestellter alter Octavia war auf der öden Fläche des Platzes das einzige Element, das im Moment für etwas Abwechslung sorgte. Bäume gab es hier keine. Hinter einem Busch in dem gegenüberliegenden Parkfleckchen tat sich etwas. Offenbar waren wir von dort schon die ganze Zeit beobachtet worden, ich sah mehrere aufmerksame Augenpaare.

— Hier, wo wir stehen, stand eine Kirche, sagte meine Mutter. Glaube ich jedenfalls. Wir werden hier bestimmt überhaupt nichts finden, die Fabrik auch nicht.

— Ein Schild» Zur Gedenkstätte «hätten wir bestimmt nicht übersehen, oder? fragte ich. Es müßte» pomnik «oder» miejsce pamieci «heißen, etwas mit» pamiec«.

Wir hatten keine Wahl, mußten die Straßenseite wechseln und auf unsere Beobachter zugehen. Ich fühlte mich für die eventuell schwierige Begegnung einigermaßen gut gerüstet. Wir waren am Ziel und waren hier ohne weitere zusätzliche Zwischenfälle angekommen. Ich war mehr als erleichtert und fühlte mich wie ein gewöhnlicher Tourist, den im Grunde alles interessiert — und dem einfach alles gefällt, was er zu sehen und an Fremdheit angeboten bekommt. In dem kleinen Park hielt sich eine Ansammlung von bestgelaunten Trinkern auf. Sie hatten für ihre Zwecke einige Parkbänke zusammengerückt und es sich dort gemütlich gemacht. Da unser Auto auf der scharf beobachteten Kreuzung schon zum dritten Mal aufgetaucht war, waren wir sicher längst ein Gesprächsthema gewesen. Alle blickten voller Erwartung, einer ermunterte unskontinuierlich, näher zu treten, schaufelte uns regelrecht heran.

Dank meiner vielen polnischen Kontakte in den slowakischen Bergen hatte ich keine Probleme, mich mit Polen zu verständigen, meine Mutter auch nicht. Als wir sagten, daß wir das Lager und die Fabrik suchten, gab es ein großes Hallo. Alle wußten bestens, was wir meinten, und behaupteten, die Geheimnisse der umliegenden Wälder genau zu kennen. Offenbar waren sie allesamt kleine Lokalhistoriker. Und wir waren vielleicht seit einer Ewigkeit die einzigen Lagertouristen.

— Jak dlugo chca Pahstwo zostac? Bleiben Sie am besten eine ganze Woche, das Gelände ist riesengroß, sagte einer.

— Duzy las rozlegly, bardzo rozlegly teren, stimmten alle zu.

Für alle Tschechen klingt die polnische Sprache niedlich und friedlich, sie hat vor allem — ganz egal, wer der Sprecher ist — einen kindlich unschuldigen Einschlag. Und weil auch Erwachsene so kindhaft sprechen und scheinbar unpassende Worte benutzen, tragen Begegnungen mit Polen a priori etwas Belustigendes in sich. Manche Ausdrücke wirken veraltet, bei manchen ahnt man zwar, was sie bedeuten, im Tschechischen träfen sie aber empfindlich daneben, oder sie wären mehr als unangebracht, wenn nicht unanständig. So ist die tschechisch-polnische Semikommunikation unausweichlich voller sprachlicher Rätsel und kontextualer Überraschungen, im Grunde spielt sich dabei immer eine Art unfreiwilliges Sprachkabarett ab — unabhängig von den Inhalten.

Unter den Männern gab es offenbar einen wirklichen Experten für die Geschichte der Sprengstoff-Fabrik und der dazugehörigen Lager, dieser Mann war vor einer Weile aber Zigaretten kaufen gegangen — und war nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich wurde er irgendwo aufgehalten, meinte jemand. Man schickte einen jüngeren Burschen, ihn suchen zu gehen. In der Zwischenzeit fragten uns die Männer über das und jenes aus, wollten zum Beispiel wissen, wo wir übernachten wollten.