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— Wir suchen ein Hotel.

Die Männer mochten Witze und amüsierten sich köstlich.

— Auch nicht oben in Nowogröd?

Sie winkten verächtlich über den Fluß in Richtung des Hügels und benutzten dabei mehrmals das beliebte Schimpfwort CHOLERA. Wir erfuhren nebenbei aber etwas mehr über Christianstadt. Christianstadt war vor dem Krieg ausschließlich deutsch, war reich und evangelisch gewesen — und als die Deutschen geflüchtet und gegangen worden waren, wurde alles anders. Die Stadt wurde komplett neu besiedelt, die meisten der Neuankömmlinge kamen von weit her, vor allem aus dem Osten.

— Die evangelische Kirche brauchte man nicht mehr, und sie zerfiel. Auch die Häuserreihe da drüben war irgendwann nicht mehr zu retten. Man riß alles ab.

— Man sieht nicht wirklich, daß es mal ein Markt war.

— Alles sollte anders, neu und schöner werden — so wie die Neubauten dort drüben.

— Sie können bei mir wohnen, ich habe ein Gästezimmer, schlug ein kleiner rotgesichtiger Mann vor. Sie können bei mir sogar etwas zu essen bekommen, ich arbeite als Koch in der Fabrikkantine. Mal sehen, was ich noch da habe.

— War die Dame schon mal hier? Im Krieg damals, meine ich, fragte ein anderer unserer neuen Freunde.

Einige lachten ihn aus und meinten, die schöne junge Frau sei damals sicher noch ein kleines Kind gewesen. Wir mußten uns entscheiden. Unterwegs hatten wir uns vorsorglich darauf geeinigt, den polnischen Antisemiten nichts zu verraten. Meine Mutter wollte vorgeben, Historikerin zu sein.

— Ja, ich habe hier gearbeitet.

Von einer Abkühlung der Stimmung war daraufhin nichts zu spüren. Niemand wurde verlegen. Dabei war klar, daßmeine Mutter keine französische oder sonstige Kriegsgefangene gewesen sein konnte.

— Es war furchtbar, ich wurde hier gegen Ende des Krieges auch eingesetzt, sagte einer. Ich kann mich noch an die Leichen erinnern, als man die Juden beim Todesmarsch erschoß und am Straßenrand liegenließ. Es war im Januar oder Februar Fünfundvierzig, der Schnee schmolz etwas unter den Körpern, sie froren dann fest.

Der junge Bote kam mit dem lokalen Spezialisten zurück, und wir bekamen endlich mehr über die eigentliche Fabrik zu hören, die zwar nur auf dieser Seite des Flusses im Norden liege — der Lagerkenner machte dabei allerdings eine fast Dreihundertsechzig-Grad-Rundgeste — , der ganze Komplex erstrecke sich aber leider auch durch die westlichen, teilweise auch die südlichen Wälder. Das nördliche Kernstück des Komplexes, wo noch die damaligen Produktionsgebäude stünden, gehöre allerdings zum Armeegelände. Was die Armee dort triebe, wisse man nicht genau… Es sei streng geheim. Alle lachten bei dieser Behauptung auf und machten Gesten wie Männer, die Zigarren rauchen.

— Grube cygara.

Jedenfalls sei es umzäunt und werde streng bewacht. Alle anderen Gebäude könne man aber ohne weiteres betreten.

— Wo wurden die Granaten verfüllt? Unser Mann zögerte kurz.

— Das alles liegt auf dem Armeegelände.

— Alles, was er nicht weiß, ist dort bei der Armee, sagte ein anderer.

Die Stimmung war gut, alle lachten wieder, unser Mann auch. Wir waren im Grunde alle — mehr oder weniger — slawische Brüder und Schwestern. Und ich hatte das Gefühl, daß wir in diesen Leuten die für uns besten Partner vor Ort gefunden hatten. Andere, nicht angetrunkene Brüder und Schwestern hätten sich mit uns sicher nicht so warmherzig eingelassen.- Ihr Tschechen habt die Scheißrussen jetzt auch im Land, meinte jemand. Dabei habt ihr sie früher so geliebt, nicht wahr.

— Stimmt, sagte meine Mutter. Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn ein Kosakenpferd aus der Moldau trinkt, sind wir frei.

Die Männer lachten herzlich.

Wir erzählten uns dann noch das und jenes, die Zeit lief. Irgendwann rieten uns die umsichtigen Männer, uns heute nur noch in der Stadt umzusehen und uns für den nächsten Tag zu rüsten. Unser zukünftiger Führer versprach, uns morgen früh abzuholen. Wir gingen zum Auto, unser Quartiermeister sollte mitfahren — und wollte es auch unbedingt. Nach einer halben Minute stiegen wir schon wieder aus, die Wohnung befand sich gleich um die Ecke. Es war spätnachmittags, noch heute in den Wald zu gehen kam wirklich nicht in Frage. Das ganze Gelände sei angeblich an die zwanzig Quadratkilometer groß, und die einzelnen Gebäude lägen voneinander weit entfernt. Unser Mann bat uns, beim Auto zu bleiben, er müsse kurz aufräumen.

— Wir mußten zur Arbeit immer ewig lange laufen — waren dauernd im Grünen, erzählte meine Mutter. Auch die Baracken im Wald waren grün gestrichen, in den ersten Tagen nach der Ankunft fühlten wir uns wie in einer Naturidylle. Gegen Auschwitz war das jedenfalls paradiesisch.

— Etwas Unkraut muß es auch in Auschwitz gegeben haben.

— Quatsch! In Auschwitz wuchs kein einziger Grashalm.

- He?

— War eben so. Und hier duftete alles. Allerdings summte der Wald Tag und Nacht, vibrierte und tönte. Überall führten irgendwelche Rohre lang, die Natur stand unter Druck, hatte man das Gefühl.

— Das hast du zu Hause nie erzählt.- Deswegen sind wir doch hier, oder? Überall waren Pumpstationen und riesige Behältnisse aus Beton verteilt, manche sahen wie Gasometer aus. Um diese Betontürme oder — wannen herum war Erdreich aufgeschüttet. Die Hügel sahen wie Pyramiden aus.

— Wurde hier immer noch gebaut?

— Ja, sicher, gebaut und gepflanzt. Auch auf den Dächern der Fabrikgebäude wuchsen Bäume, wegen der Tarnung. Und überall gluckerte und plätscherte es — bis es krachte.

— Und was waren das für Rohre?

— Keine Ahnung — für Abwasser, Rohstoffe, oft roch es nach Säure. Früher war die Gegend angeblich ein Naturschutzgebiet, erzählte uns unser deutscher Meister jedenfalls. Er steckte uns manchmal Essen zu. Die gefährlichsten Arbeiten ließ man natürlich die Juden machen.

— Wahrscheinlich lag deswegen alles so weit auseinander, sagte ich. Wenn ein Gebäude hochging, blieben die anderen heil.

— Bei den Explosionen flogen aber — so waren die Dinger gebaut — nur die Außenwände weg, also die Ziegel. Die Betonskelette blieben stehen.

Die unausgesprochenen Bedenken, was unser Quartier betraf, waren vollkommen berechtigt gewesen. Unser Wohltäter hatte zwar ein separates Gästezimmer, dieses lag aber hinter seinem eigenen. Wir würden also immer sein Schlafgemach durchqueren müssen. In unserem Raum stand ein Doppelbett, in dem eventuell früher die Eltern des Mannes geschlafen hatten, wenn sie dort nicht sogar gestorben waren. Nach dem Zustand der Bezüge zu urteilen, wurde das Bett gut frequentiert — eventuell von seinen Freunden. Meine Mutter wurde blaß. Und ihre üppige Haarmähne plusterte sich sichtbar auf.

— NIEMALS! sagte sie, hier werde ich niemals schlafen. Hier sind bestimmt Wanzen. Im Lager haßten wir sie mehr als die Deutschen.- Nie ma pluskw, meinte unser Mann, der das tschechische Wort» stenice «offenbar kannte.

— Trotzdem. Sie müssen die Betten unbedingt neu beziehen, uns jedenfalls frische Bettwäsche geben, sagte ich.

Er hatte aber gar keine, keine saubere jedenfalls. Ich holte unser Geld heraus und sagte ihm, er solle sich von einem Nachbarn Bettwäsche leihen — und ihm etwas Geld als Pfand geben. Oder die Bettwäsche gleich kaufen. Er ging und ließ uns allein. Die Wohnung sah furchtbar verkeimt aus. Ich untersuchte schnell die Küche, machte auch den Kühlschrank mit den angepriesenen Betriebsspeisen auf. Der Mann hieß mit Nachnamen Olejnik, was man als Ölmann übersetzen könnte, er hätte aber eher Maselnik oder Maszlowski — also Buttermann — heißen sollen. Der Kühlschrank war gefüllt mit Butterklumpen in unterschiedlichem Ranzigkeitszustand und Zersetzungsgrad. Dazwischen lagen diverse angegrünte oder sogar stark begrünte Scheiben Wurst.

— Alles frisch aus der Kantine, sieht man.