— Wir haben viel zu wenig eingekauft, sagte meine Mutter. Und wir müssen sowieso hier weg. Draußen sah es schon abendlich aus, unser geliehener Octavia, unser letztes Zuhause, wartete treu vor der Tür. Unser Mann war nirgends zu sehen. Wir gingen zurück zu der großen Kreuzung. Etwa fünfzig Meter weiter in Richtung der städtischen Betriebe tauchten drei gestikulierende Gestalten auf, in einem Knick der Straße stand außerdem eine andere Figur — schien aber nur auf der Stelle zu treten. Danach sahen wir noch eine mit der Bechterewschen Krankheit geschlagene, waagerecht nach vorn gebückte alte Frau. Die nach vorn geklappte Oma blickte beim Gehen in ihr breites Hexenkörbchen, schien aber, trotz des nicht vorhandenen Ausblicks nach vorn, auch ein Ziel vor Augen zu haben. Als wir das begehrte Epizentrum der Gegend erreichten, klärte sich die Lage schlagartig. In einer Nebenstraße befand sich die örtliche Spätverkaufsstelle. Alle unsere Freunde waren dort, auch unser Quartiermeister, der einen Bündel Wäsche über den Arm trug. Er trank Bier aus der Flasche, von unserem ersten Geldschub hatte er aber sicher noch mehr eingekauft — zwischen seinen Beinen stand eine Einkaufstasche.
Wir wurden von der Runde freudig begrüßt. Viele der übrigen Anwesenden schienen Bescheid zu wissen, wer wir waren. Sie nickten uns lächelnd zu. Einige wirkten schon stark angetrunken, und ich war froh, Karate trainiert zu haben. Die Stimmung war aber friedlich, im Laden gab es sogar Obst zu kaufen, ich entdeckte noch gutaussehenden Joghurt in Gläsern und zwei Sorten annehmbarer Fischbüchsen. Eine davon war aus russischer Produktion. Das Brot war erstaunlich frisch und billig, die Preise für Alkohol waren dagegen astronomisch. Ein halber Liter gewöhnlichen Wodkas kostete 56 Zloty, es gab aber noch teurere Sorten. Bei einem bescheideneren Verdienst von, sagen wir, eintausend Zloty waren sechsundfünfzig Zloty eine Menge Geld. Draußen roch es leider, besonders an der Flanke des Gebäudes, stark nach Urin und Exkrementen. Die Verkaufsstelle war keine Kneipe und mußte selbstverständlich keine eigenen Toiletten betreiben. Wir waren trotzdem guter Hoffnung, gingen noch — mit unserer Bettwäsche in den Händen — zum Fluß spazieren, verzogen uns aber bald in unser Quartier und das Doppelbett.
Neben der Mutter zu liegen und zu lesen war vollkommen ungewohnt und alles andere als angenehm. Beide waren wir auf eine solche Zwangsannäherung überhaupt nicht vorbereitet. Und zum Schlafen war es noch viel zu früh. Während der kribbeligen Einschlafszeit hatte ich dauernd das Gefühl, einer Inzestvereinigung recht nah zu sein — trotz der Absurdität aller anfallenden Vorstellungen.
Eine Schlägerei soll es in der Nacht doch noch gegeben haben. Unser Buttermann kam irgendwann blutig nachHause, im Flur und auf der Toilette entdeckte ich schon nachts etliche Blutspuren. Sein Kissen sah früh bunt und verkrustet aus, seine Nase war geschwollen. Geschlagen hätten sich aber andere, erzählte er, er sei nur auf dem Nachhauseweg hingefallen, über eine Wurzel gestolpert.
— Wo sind hier Wurzeln?
— Ich habe mich verlaufen. Wollen Sie nicht Butter zum Frühstück? Wurst habe ich auch. Unser ortskundiger Lagerführer kam erst gegen zehn Uhr, wir standen schon fast eine Stunde auf der Straße und waren unruhig. Der Mann entschuldigte sich — er hätte unbedingt gut ausgeschlafen sein wollen. Und er hätte noch einen jüngeren Freund aus dem Bett holen müssen, der unbedingt mitkommen wollte. Die beiden erklärten uns, man würde mit dem Auto überall gut hinkommen, bis tief in den Wald. Anschließend wurde uns erläutert, daß sie für die Führung etwas Geld haben wollten. Zweihundert Zloty, ich stimmte zu und bezahlte im voraus. Der jüngere Mann verschwand sofort mit einem der Geldscheine und kam mit einer Flasche Wodka zurück. Wir fuhren los in Richtung der Wälder, durch die wir am Vortag gekommen waren. Schon kurz hinter der Stadt sollte ich nach rechts abbiegen, es war der zweite oder dritte vollkommen unscheinbare Waldweg. Ich hielt erst einmal an — die Einfahrt war eindeutig verboten. Das entsprechende Schild stand nur etwas schief und war angerostet, auf dem Waldboden lag außerdem eine noch lesbare Warntafel.
— Wir könnten hier auch parken, sagte ich.
Die Männer winkten verächtlich und meinten, in Polen hielte man sich nicht an Verbote. Auch bei heruntergelassenen Bahnschranken schlängele man sich hindurch, wenn es möglich sei. Deswegen gäbe es in Polen praktisch keine dieser einseitigen Schrankenstummel, diese würde man einfach umfahren.- Außerdem: Sie wollen für die Rückfahrt sicher Ihre vier Räder behalten, oder?
— Gibt es hier irgendwelche Orientierungstafeln? Oder etwas zum Gedenken?
— Nein, nichts, nirgends.
— Sind wir eventuell schon in Schlesien? fragte ich noch. Unterhalb der Stadt wechselte die Grenze die Uferseite.
— Nein, hier war noch Brandenburg.
— Mutter, hör mal, auf der Karte konnte man das nicht so genau sehen.
Sie wollte aber nicht weiterkommunizieren. Der Weg war kein gewöhnlicher Waldweg. Er war betoniert und bestand aus so gutem Gemisch, daß die Oberfläche kaum bröckelte.
— Vielleicht fahren wir gerade auf dem Beton, den Eva glattgestrichen hat, sagte ich.
Die hiesigen Bauten, also auch alle Straßenarbeiten, führte damals — im Auftrag, versteht sich — die Siemens-Bauunion aus. Und Eva, Mutters Schwester, war eine Zeitlang zum Baumfällen und eben für diese Wegearbeiten abkommandiert worden. Ihre Geschichten kannte ich gut, sie war die einzige, die viel und gern erzählte. Außerdem war Eva die einzige, die vor einigen Jahren entschädigt worden war — nicht aus staatlichen Mitteln, sondern direkt von der Firma Siemens. Das Westgeld war daraufhin gerecht zwischen den Frauen geteilt worden.
Wir kamen immer tiefer in den Wald und passierten zwei ramponierte Pfosten eines Einfahrtstors aus gelben Backsteinen. Bald kamen wir aber nicht weiter, weil der Weg von Eisenbahnschienen gekreuzt wurde — für das Auto lagen sie eindeutig zu hoch.
— LOS! sagten die Männer auf Deutsch — das sollte sicher ein Scherz sein. Mozna, mozna. Ich weigerte mich trotzdem.
Wir stiegen aus, trugen ein paar zerbrochene Äste zusammen und legten Backsteine zwischen die Schienen.- Komme ich woanders auch wieder raus?
— Zaden problem, sagten sie — ein sehr beliebter Spruch in Polen.
Kurz danach sahen wir oberhalb der Baumkronen riesige und vollkommen intakte Schornsteine in den Himmel ragen, sie waren mindestens dreißig Meter hoch. Sie gehörten zu dem uns bereits angekündigten Kohlekraftwerk. Wir bogen ab. Das Kraftwerk-Gebäude neben den Schornsteinen war aus Stahlbeton und schien ebenfalls gut erhalten zu sein.
«Wertarbeit«, sagte der jüngere Mann wieder auf Deutsch.
Meine Mutter blieb die ganze Zeit stumm, ich ließ sie in Ruhe. Als ich anhielt, wollte sie im Wagen bleiben. Das Innere des Kraftwerks machte den Eindruck einer fensterlosen Kathedrale. Etwas Licht fiel nur durch einige Kanoneneinschußlöcher und längliche Schlitze im oberen Bereich, außerdem noch durch runde Öffnungen, in denen früher irgendwelche Rohre gesteckt hatten. Der Innenraum war vollkommen leer, Zwischendecken waren eingebrochen, alle Brennöfen, Turbinen, Rohre und Förderbänder waren nach dem Krieg offenbar abtransportiert worden.
— Die Russen nahmen alles weg, was sie gebrauchen konnten, und was sie nicht wollten, nahmen sich dann die Polen.
Der Bau war gigantisch, war nirgends abgesichert oder abgesperrt, der Boden der Halle war voller Löcher für die Luftzufuhr und den Abtransport der Asche. In dem schummrigen Licht hätte man leicht stolpern und irgendwo verschwinden können. Betontreppen ohne Geländer schienen intakt zu sein, und die beiden marschierten bedenkenlos nach oben, ohne sich nach mir umzusehen. Da ich mir den Ausblick von oben nicht entgehen lassen wollte, stellte ich keine Fragen. Auf einem Treppenabsatz stärkten sich die beiden mit Wodka. Etwa in der Höhe des vierten Stockwerks gab es eine lange begehbare Plattform, von deren Rand man in einen breiten, schräg nach unten verlaufenden Schacht hineinsehen konnte. Dort liefen früher zwei lange Transportbänder für die Kohlen, sagten sie mir. Unten im Wald sah man hohe, aneinandergereihte Kohlebunker und die an ihnen entlangführenden Eisenbahnschienen. Als ich von der Plattform aus eine etwas ramponierte Galerie betreten wollte, rief man mich zurück.