— Er iz geven a polyak, sagte sie noch auf Jiddisch, nachdem wir sie auf den Sitz zurückgehievt hatten.
Danach war sie wieder nicht ansprechbar, war aber wach. Niemand aus der Familie sprach eigentlich Jiddisch, angeblich auch nicht vor dem Krieg — nicht in Ostrau, nicht in der Slowakei oder in Budapest. In Wien schon gar nicht.
Die Landstraße war offenbar nicht weit, ich hörte dort gerade ein Auto vorbeifahren. Der jüngere Mann verabschiedete sich plötzlich wortlos und rannte los — im ersten Moment sah es nach einer kleinen Panikattacke aus. Es war aber gar keine Flucht — er hatte zwischen den Bäumen einen Fahrradfahrer erspäht. Meine Männer und der Fahrradfahrer versuchten, das Auto samt meiner Mutter kurz zu schaukeln, gaben es aber gleich wieder auf, und der Radfahrer fuhr mit Tempo los. Ich setzte mich still ins Auto. Schon bald trafen wie aus dem Nichts die ersten Helfer ein. Wieso es so schnell ging, war mir schleierhaft.
Einige der Leute waren unsere Trinker, es waren aber auch andere Hilfsbereite dabei. Einer zog sogar einen reizenden Miniaturleiterwagen hinter sich her, dieser war für meine Mutter aber eindeutig zu kurz. Bald danach erschien einer aus der Trinkerclique mit zwei Kinderschlitten und einem längeren Seil. Seine Idee war erstklassig. Er schlug vor, die beiden Schlitten seitlich zusammenzubinden und meine Mutter draufzulegen.
— In stabiler Seitenlage. Zum Kalten Krieg gehörte zum Glück auch die Zivilverteidigung.
Ich holte eine Decke aus dem Auto, wir legten meine Mutter etwas gekrümmt auf die Doppelliege und versuchten, sie auf dem Waldboden zu ziehen — wir mußten uns stark nach vorn beugen und sahen dabei wie Treidler an der Wolga aus. Ein Arzt müßte auch schon unterwegs sein, meinte jemand, wir sollten warten. Der Arzt kam tatsächlich baldangeradelt und sah in seiner etwas zerknautschten Zivilkleidung nicht wie ein Arzt aus, war aber offenbar einer. Der etwas unglücklich wirkende Mann untersuchte meine Mutter gründlich, schickte dabei alle Fremden weg. Ein Blutdruckmeßgerät hatte er dabei, ein Stethoskop ebenfalls, er gab meiner Mutter irgendwelche Tropfen. Sie wirkte jetzt wieder relativ munter.
In der Zwischenzeit versuchten die Männer unser Auto freizubekommen. Und sie schafften es ganz ohne schweres Gerät. Sie schoben etwas unter alle vier Räder, federten das Auto mehrmals hoch und runter,»pumpten «es so lange auf und ab, bis einer kurz vor dem oberen Kulminationspunkt das Kommando gab:
— Te-RAZ!
Der Octavia hüpfte nach vorn, das Chassis und der Auspuff bekamen dabei die nächsten Schäden verpaßt, die Hinterräder hatten die erste Hürde jetzt aber überwunden — standen zwischen den Schienen. Dann wurde noch einmal gepumpt und bei dem nächsten Sprung der hintere Schalldämpfer fast abgerissen. Das Auto stand jetzt aber endlich hinter dem Gleisbett. Der Einlasser mühte sich mit normaler Lautstärke ab, der Motor sprang aber nicht an. Unten am Auto schepperte es mächtig auch beim Anschieben.
Kurz danach erschien zwischen den Bäumen — wie vom Himmel geschickt — ein Bauer mit einem Pferd. Und ich konnte endlich sehen, was man sich unter PFERDESTÄRKE vorstellen sollte. Das Fahrzeug zu ziehen kostete das schöne Tier anscheinend keine Mühe, es mußte sich nicht einmal beim Anfahren sichtbar nach vorn stemmen, marschierte einfach locker los, und das Auto folgte ihm. Wir setzten uns alle in Bewegung und näherten uns auf einem parallel zur Straße verlaufenden Weg langsam der Stadt. Ein wunderlicher Umzug: unser Auto von einem Pferd geschleppt — immer wieder etwas ruckartig, aber rechtschnell. Wesentlich ruhiger hatte es meine Mutter, die auf dem improvisierten Doppelschlitten sanft und langsam durch den Wald glitt. Man hatte ihr nicht erlaubt aufzustehen, ich sollte mich auch schonen und meine Mutter betreuen — durfte nicht mitschleppen. Ich lief also neben den Schleppern her. Hinter dem Lenkrad unseres sich entfernenden Octavia saß von Anfang an jemand anders.
Im Grunde leistete unser Alkoholikertrupp spontan das, wozu heutzutage die Feuerwehr, die Polizei und der Rettungsdienst vonnöten wären — eventuell noch das Technische Hilfswerk mit Ausrüstung für Industrieunfälle, auf alle Fälle für Einsätze auf chemisch verseuchtem Gelände. Hier kam man ohne Sirenen oder Martinshörner aus, es waren außerdem auch keine überzähligen Feuerwehrmannschaften alarmiert worden.
In der Stadt wartete schon jemand auf uns. Dieser bereits reichlich mit Motoröl verschmierte Mensch hatte im Hof eine einfache Montagegrube. Er drahtete den Auspuff provisorisch fest, schweißte irgendwo ausgiebig elektrisch und auch autogen, klopfte und schraubte danach noch kurz, und unter seinen goldenen Händen sprang der Motor anschließend sofort an. Das Auto machte trotz allem Krach wie ein Rennwagen. Ich bezahlte den Zauberer, teilweise mit unseren tschechischen Kronen und dem Rest der DDR-Mark, dachte noch daran, das restliche Geld für unseren Buttersammler und Herbergsvater zurückzuhalten. Wir holten unser Gepäck ab, es war später Nachmittag. Den Weg bis Zgorzelec kannte ich bereits, danach erwartete uns noch die Überquerung der Ausläufe des Isergebirges. Meine Mutter sprach inzwischen wieder Tschechisch.
— Nur weg, Georg, weg von hier, sagte sie.
— Bloß nicht wieder über Deutschland fahren, meinten unsere Freunde — nicht nach Görlitz. Die Deutschen lassen euch mit dem kaputten Auto nicht durch.Eine Woche später bekam meine Mutter ihren zweiten Schlaganfall. Die Ausfälle waren etwas ernster als bei dem ersten, im Gesicht war sie zum Glück überhaupt nicht entstellt. Für Anna sei die Perspektive trotzdem schlimmer als der Tod, meinten alle und schirmten sie von der Außenwelt ab. Nebenbei verstärkte sich aber leider Mutters Gesichtstick — sie wölbte dauernd die Lippen nach vorn. Davor hatte sie diese Unsitte einigermaßen im Griff gehabt. Jetzt wollte sie niemanden sehen und sprechen, wollte vor allem nicht gesehen werden. Sie hatte gleich vom Krankenhaus aus überall ausrichten lassen, sie wolle nicht besucht werden. Nach der Entlassung und der Rückkehr blieb sie noch eine Zeitlang zu Hause, zog aber bald aufs Land in Danas Haus. Sie sollte sowieso für längere Zeit krankgeschrieben bleiben. Und als Verfolgte des Naziregimes wollte sie sich dann berenten lassen.
In der Prager Wohnung stand mir logischerweise ihr Prachtzimmer zu. Es war großartig, ein wahrhaftes Geschenk des Himmels — ich fühlte mich kurzzeitig wie nach einer epochalen Eroberung. Bleiben wollte ich zu Hause aber auf keinen Fall. Alle machten mir sowieso direkt oder indirekt Vorwürfe, obwohl der Schlaganfall bei unseren Vorfahren kein seltenes Ereignis war — und der Schlaganfalltod bei uns als der schönste von allen galt, oft sogar herbeigewünscht wurde.
— Ausflug, Ausflug, das hat sie jetzt von deinem blöden Ausflug, Georg.
— Das hätte sie umbringen können, hörte ich hinter einer Tür.
— Sie hat doch das ganze Leben furchtbar viel geraucht.
— Trotzdem.
manchmal lief der mann gleichzeitig in zwei entgegengesetzte richtungen
Ich war in meinem früheren Leben von Frauen — bis auf einige kurze Intermezzi — dauerhaft umstellt, und wenn ich dabei von ihren Röcken, Gerüchen, gleichzeitig auch von Sheldrakeschen Feldern ihrer Freundlichkeit umwedelt wurde, mußte ich nie fürchten, mir könnte etwas Schlimmes zustoßen. Direkt von ihnen gingen in meinem Fall nie ernste Gefahren aus — offen verletzende Aggressionen sowieso nicht. Ihre kleinen Verstimmtheiten oder leichten Eitelkeitsanfälle ängstigten mich ebenfalls nicht. Was aber regelrecht rettend war: In allen wichtigen Phasen meines Lebens fand sich im richtigen Moment das richtige weibliche Wesen an der passenden Stelle ein. Als ich einmal auf der offenen breiten Plattform eines Straßenbahnanhängers stand, hielt ich mich, wie oft, nicht fest. Die Plattform lag in der Mitte des Wagens, man fühlte sich dort ausreichend geborgen und vor unerwartetem Rauswurf geschützt. Die Fahrten zu meinem Vater waren furchtbar lang, führten durch die ganze Stadt, und ich kannte die vielen Stationen, Streckenabschnitte und alle ihre Problemstellen so gut wie auswendig. Trotzdem paßte ich nicht immer auf. Die Straßenbahnen wurden damals teilweise von jungen, im zweimonatlichen Schnellkurs angelernten Kräften» gelenkt«. Im Grunde brauchten diese Leute nur» Gas «zu geben oder zu bremsen — und hatten laut Straßenverkehrsordnung außerdem überall und immer Vorfahrt. Und weil diese Kolosse wegen ihrer Masse sogar von Lastwagenfahrern respektiert wurden, hätten sie durch die Stadt theoretisch in aller Ruhe gondeln können. Die jungen Wagenlenker wollten aber oft auch etwas schneller fahren als erlaubt, hatten sich alleSchwachstellen der besonders tückischen Kurven und alle Problempunkte der scheinbar geraden Strecken noch nicht fest eingeprägt. Oder sie vergaßen beim Träumen über ihre Zukunft einfach, daß auch die nötigsten Ausbesserungen und Begradigungen der Schienen sich immer noch in der Planungsphase befanden. Oft zuckten der Triebwagen und dann die Anhänger unerwartet heftig zur Seite. Die Räder ratterten und rumsten dabei — und der noch mit viel Holz ausgekleidete Wagenkörper quietschte laut. Einmal bewahrte mich vor einem Hinauswurf auf die Straße eine ältere Dame, die direkt vor mir stand. Diese dickliche Person hielt sich auch nicht fest, wir beide wären beinah unter die vorbeifahrenden Autos geschleudert worden. Die Frau fand im letzten Moment den Griff am Rand der Plattform, und ich, der kurz davor noch konzentriert in die Ferne gesehen hatte, stolperte erst einmal über ihre abgestellte Tasche. Auf die weichgepolsterte Frau fiel ich deshalb etwas verspätet, dafür mit zusätzlicher Energie. Die Straßenbahn war in voller Fahrt, der rasende Abgrund ganz nah. Die Frau kommentierte den Vorfall mit dem folgenden Satz: — Du wärest wenigstens auf etwas Weiches gefallen.