In meinem Schreck bedankte ich mich für die Rettung nicht einmal. Beim Nachdenken war ich nie der Schnellste und konnte auch in diesem Moment aus mehreren Gründen nicht sofort reagieren. Die Wahrscheinlichkeit, grübelte ich, nicht auf der Frau, sondern neben ihr auf der Granitpflasterung zu landen, wäre um ein Vielfaches größer gewesen. Und auch wenn ich mich an der Dame festgekrallt hätte, hätte es bei dem entscheidenden Aufprall auch ganz anders kommen und ich als Pflasterpuffer unter ihr enden können. Trotz aller dieser Bedenken habe ich ihre Liebenswürdigkeit nie vergessen.
«Die Frau wählt«- das wußte ich von meiner mich besonders in Liebesdingen schulenden Mutter seit langem. Meinezukünftige Frau, die ich eines Tages tatsächlich auch heiraten sollte, wohnte im gegenüberliegenden Haus in einer Dachgeschoßwohnung. Wir trafen uns im allerletzten Moment, beide waren wir über fünfundzwanzig, und ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in einem miserablen Allgemeinzustand — war trotz ausreichender Nahrung ausgezutscht, ausgezehrt und ausgenervt. Außerdem war ich gerade dabei, meine nächste panische Prag-Flucht zu planen. Ohne diese entscheidende Begegnung wäre ich höchstwahrscheinlich — wenn nicht direkt in meiner schönen Stadt, dann eben woanders — auf die eine oder andere Art zu Grunde gegangen, im besten Fall wäre ich in einer psychiatrischen Klinik voller netter Schwestern gelandet. Dort hätte man mich allerdings garantiert mit den damals üblichen Hammermedikamenten ruhiggestellt und entsorgungsnah endtherapiert. Aus mir wäre irgendwann eine aufgedunsene stumpfruhige Kugel geworden, wie aus einem meiner Freunde aus meiner schulischen Clique.
Lange Jahre meiner Kindheit hatte ich meine zukünftige Frau leider nie zu Gesicht bekommen. Die länglichen schmalen Fenster ihrer Dachgeschoßwohnung in der Mickiewiczstraße waren relativ hoch angesetzt. Aus meiner Sicht verbrachte das gutbehütete Mädchen ihre gesamte Kindheit unterhalb der Fensterkanten. In ihrer Wohnung sah man immer nur einen alten weißhaarigen Mann aufstehen und sich wieder hinsetzen, außerdem und noch viel öfter einen jüngeren erwachsenen Mann, der allerdings sehr beweglich war. Man sah ihn dauernd durch die Wohnung schießen, manchmal war er gleichzeitig in zwei Räumen zu sehen, lief dabei oft in zwei entgegengesetzte Richtungen. Später kam heraus, daß es sich bei diesem Mann um ihn und seinen Zwillingsbruder handelte. Eine erwachsene Frau sah man in den Fenstern der Wohnung nie, ein Kind eben auch nicht. Die beiden Männer fielen auch noch wegen einer besonderen Eigenart auf: Der eine oder der anderestreichelte gern sein eigenes Gesicht, fuhr mit der Hand regelmäßig und ausgiebig über seine Wangen, Lippen und seinen Hals. Dieses meist morgendliche Ritual in der Fensternähe war voller Zärtlichkeit und spielte sich offenbar vor einem von uns aus nicht einsehbaren Spiegel ab. Vielleicht praktizierten diese Gesichtsmasturbation abwechselnd sogar beide der Zwillinge. Mein Onkel, der stolze Besitzer des ersten elektrischen Rasierapparates aus heimischer Produktion, hatte für diese scheinbare Selbstverliebtheit eine einfache Erklärung:
— Der Mann rasiert sich sicher woanders in der Nähe einer Steckdose und sucht dann am Fenster nur die übriggebliebenen Härchen.
Das gegenüberliegende Haus war insgesamt um ein Stockwerk niedriger als das, in dem sich unsere Wohnung befand — aus dem Grund wohnten ich und meine zukünftige Dachgeschoßfrau ungefähr auf gleicher Höhe, in der gleichen Etage sozusagen. Wir waren praktisch so etwas wie Flurnachbarn. Mein Interesse an der gegenüberliegenden Dachwohnung und ihren männlichen Bewohnern hatte noch einen sachlichen Grund: Ausgebaute Dachgeschosse sah man in Prag damals selten, in meiner Gegend waren sie auf alle Fälle etwas Besonderes. Daß ich über diese Familie etwas mehr wußte, als ich mir aus meinen Beobachtungen zusammenbasteln konnte, verdankte ich Tante Erna, die in ihrer Distanzlosigkeit im ausgedehnten nachbarschaftlichen Umfeld viele gute Kontakte unterhielt. Sie sprach — schamfrei wie sie war — trotz ihres undefinierbaren Akzents und ihrer manierierten Anglizismen Menschen an, die sie in der Gegend regelmäßig traf, und fragte sie geradeheraus nach ihrem Befinden, dem Befinden ihrer Mitbewohner und nach allen ihr als klärungsbedürftig vorkommenden Neuigkeiten. Auf diese Weise kannte sie den gesamten kiezrelevanten Tratsch fast vollständig. Da sie auch über uns alles mögliche erzählte, alles, was ihr erzählwürdig vorkam, bekam unsere Wohnung nach und nach Glaswände. Ich könnte in diesem Zusammenhang einige Sprüche aufzählen, als Beispiel müßte einer von Tante Györgyi reichen:
— Ich frage mich, wieso man beim Bäcker über meinen Fußpilz Bescheid weiß.
Ärger bekam Erna aber nur selten. Wir waren alle eher froh, gut informiert zu leben und einen vorgelagerten Kundschafterposten zu haben, der uns eventuelle feindselige Stimmungen melden würde. Aufgrund der tschechischen Gemütlichkeit war es aber nie so weit gekommen. Über die männlich dominierte Familie von gegenüber berichtete Erna selten, aber kontinuierlich. Daß die zwei Brüder schöne Männer waren, war bei uns ohnehin ein Dauerthema, von größerer Tragweite war aber etwas anderes: Dank Erna wußten wir, daß der Familie vor vielen Jahren ein Kind verlorenging. Es war irgendwo von einer Terrasse gefallen und hatte den Sturz nicht überlebt. Für die ältere Schwester des Tötlings waren die Fenster deswegen tabu. Als sie größer wurde und über die Fenster-Unterkante blicken konnte, mied sie die Nähe der Fensteröffnungen offensichtlich um so mehr. Draußen hatte sie sicherlich — wenn überhaupt — nur im Hof ihres Hauses gespielt. Als ich klein war, fiel sie mir in der Nachmittagswildnis der Umgebung nie auf, außerdem ging sie offenbar in eine andere Schule. Hinzu kommt noch, daß ihre Straßenseite die langweiligere war, und ich kannte dort niemanden. So überquerte ich ihre Mickiewiczstraße nur, wenn ich Frau Garrigue Masaryk einen Besuch abstatten und ihr in die Augen sehen wollte.
Das Kurioseste an der Dachgeschoßfamilie war die exzentrische und uns persönlich vollkommen unbekannte Mutter des Mädchens, also die Frau eines der Zwillingsbrüder. Sie lebte angeblich allein in einem Schloßturm. Vor Jahren hatte sie die Wohnung, ihre drei Männer und die übriggebliebene Tochter verlassen — von einem Tag auf den anderen — und war nie wieder zurückgekommen. Sie hattein Südböhmen den Direktor eines Schloßmuseums gekannt, dieser hatte für sie eine Art Arbeitsstelle geschaffen — und sie konnte in einem Turm des Schlosses wohnen bleiben.