Von ihrer Tochter sah ich in späteren Jahren manchmal die Haare, noch später ihren ganzen Kopf — allerdings immer nur abgedunkelt im Rauminneren. Mit unserem Opernglas beforschte ich bei günstigeren Lichtverhältnissen auch ihr Gesicht. Solche erregenden Momente, die man beim Genießen von nur fragmentiert gelieferten Bildern, beim Verfolgen von Echtzeit-Abläufen, von Klein-, Groß- oder Scheindramen erleben kann, wollte ich auch später im Leben nicht missen. Man hört regelrecht das optische Knistern, Rascheln oder Rumoren, das die Akteure in der gegenüberliegenden Wohnung produzieren, und man ist nebenbei sogar gezwungen, mit den Beobachteten aktiv mitzudenken. Man füllt das scheinbar sinnlose Hantieren der Leute behelfsmäßig mit Sinn auf und ergänzt ihre pantomimischen Unterhaltungen durch möglicherweise passende Worte. Was das nicht mitgelieferte Gefühlsgefüge angeht, ist man natürlich nur auf die eigene Phantasie angewiesen. Der weiteren Ausschmückung sind dabei keine Grenzen gesetzt.
Nachdem meine zukünftige Frau aus der kindlichen Versenkung aufgetaucht war, fand ich sie nicht einfach nur interessant. Das zusätzlich Anziehende an ihr war, daß ihr und ihren Männern — trotz Ernas Zuarbeit und trotz aller fernoptischen Eindrücke — ungewöhnlich viele Fragezeichen anhafteten. Die beiden Zwillingsmänner waren bei Ernas Vorstößen sehr zurückhaltend gewesen, und ihr alter Vater, der oft die Einkäufe erledigt hatte, hatte auf sie immer einen mürrischen Eindruck gemacht. Das Besondere an dieser Familie war noch, daß sie für mich in einer Art Parallel-Vergangenheit lebte. Das folgende Phänomen kannte ich auch aus anderen Zusammenhängen: Wenn in meiner Gegenwart von Personen — Personen aus der Gegenwart — gesprochen wurde, die ich persönlich nicht kannte, nahm ich oftautomatisch an, es handele sich um Menschen aus der fernen Vergangenheit — im Grunde um bereits verblichene Wesen. Wenn ich diese Menschen später traf, hatte ich als erstes das nicht ganz falsche Gefühl, Untoten aus dem Jenseits gegenüberzustehen.
Meine zukünftige Frau war ausgesprochen untot, als ich mit ihr das erste Mal sprechen konnte. Aus der Nähe war sie noch beeindruckender als aus der Ferne, war allerdings ungewohnt direkt — um nicht FRECH zu sagen. Wir trafen uns an einem 28. Oktober.
Die dank T. G. Masaryk vollzogene Staatsgründung im Oktober 1918 wurde in der sozialistischen Tschechoslowakei nicht gefeiert. Dieser Tag wurde uns im Grunde verschwiegen, weil 1918 ein kapitalistisch ausbeuterischer Staat gegründet worden war. Man legte dafür den großen Tag der Liquidierung der prosperierenden tschechischen Wirtschaft auf denselben Tag, und der 28. Oktober wurde zum» Tag der Verstaatlichung «erklärt, die im Tschechischen offiziell» Vernationalisierung «hieß. Man feierte also die damalige flächendeckende Enteignung aller kapitalistischen Elemente des Landes — und auf diesen Kahlschlag sollten alle auch noch stolz sein. Dabei traf und bestrafte dieser Radikalschritt fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung. An diesem Tag besuchte ich manchmal — wenn nichts dazwischenkam oder ich es nicht vergaß — die tapfere Amerikanerin Garrigue Masaryk, die Frau unseres ersten Präsidenten. Daß ihre Büste die Beseitigungs- und Bereinigungswut der fünfziger Jahre überstanden hatte, war tatsächlich ein kleines Wunder. Diesmal kam ich gar nicht dazu, zu der relativ hoch angebrachten Büste aufzublicken. Ich traf meine Frau, die gerade aus der Haustür trat.
— Ich wohne dort drüben, sagte ich.
— Ich weiß, und du heißt Georg. Ich habe von dir schon viele schlimme Dinge gehört. Ich wohne hier auch schon ewig. Du warst irgendwann längere Zeit weg, oder? — Ich bin in die Slowakei geflüchtet, war dort klettern und so.
— Also sinnlos dein Leben riskiert…
— Prag ist doch furchtbar, überall nur Magengeschwüre und Mundgerüche. In den Bergen habe ich nebenbei aber auch etwas Kultur, einmal sogar ein tolles Konzert erlebt. Du warst einige Jahre aber auch nicht hier.
— Ich war in einer Art Internat, und dann habe ich noch woanders studiert. Übrigens ziehst du dich unmöglich an, weiß du das? In dieser Lederjacke siehst du aus wie eine Apfelsine auf Stelzen.
— Wieso haben wir uns früher nie auf dem Tor oder im Park getroffen?
— Ich war auf einer Schule für besonders Fleißige.
— Also auch nachmittags.
— Auf jeden Fall länger. In die Nähe dieser Klettermauern durfte ich sowieso nicht, auf das Tor schon gar nicht. Dort trafen sich ganz schlimme Typen, haben sich mit Steinen beworfen.
— Das war eher die Affenbande, aber auch noch andere…
— Und du?
— Wir sind zur Abwechslung vom Tor gefallen und waren tot. Und haben Bomben gebastelt. Aber ich habe dort oben oft Gitarre gespielt, stundenlang gesungen und gebrüllt. Das hättest du sogar von weitem hören können.
— Manche Idioten pißten manchmal von oben, standen an der Kante und pißten. Und dort gibt es überhaupt kein Geländer.
— Du sagtest vorhin, du hättest von mir irgend etwas gehört. Was zum Beispiel?
— Das und jenes. Ich bin einfach neugierig.
— Von mir wirst du im Moment nicht viel erfahren. Ich bin ein bißchen verstummt, singe auch nicht mehr.
— Aber du sprichst doch, Georg.
— Lachen tue ich auch viel weniger.- Bei euch wurde aber viel gelacht. Ich habe es bis zu uns gehört, wenn hier unten gerade kein Auto fuhr.
— Und was heißt das? fragte ich.
— Du mußt es geübt haben, das Lachen.
— Du warst für mich so etwas wie die Enkelin von Masaryk, jedenfalls ein Nachkommensfrüchtchen von Frau Garrigue. Das kann ich dir jetzt amtlich mitteilen. Als deinen Vater wollte ich mir keinen der Zwillinge vorstellen, weil ich sie nie unterscheiden konnte. Ich dachte eher an einen Nachkommen eines Freiheitskämpfers, du weißt schon…
— Mickiewicz? fragte sie.
— Richtig.
— Ich habe keine Lust zu rätseln, ich möchte einiges einfach wissen, sagte sie ernst.
— Was denn?
— Ist dieser unbewegliche Dicke mit den nackten Beinen auf dem Nierentisch irgendein Stiefvater von dir?
— Nein! Das ist mein Onkel, DER Onkel — der einzige Mann außer mir. Handwerklich ist er ein sehr begabter Mensch, vor allem aber ein mutiger. Nur sieht man ihm das nicht unbedingt an.
— Und sag mal — ist dieser Onkel so etwas wie ein Ausdauerschweißer? Das war immer meine Hypothese.
— Nein. Er kann aber gut schweißen.
— Mein Vater meinte dagegen, der Weißbeiner würde in seinem Zimmer mit Chemikalien experimentieren — und hätte deswegen diesen Lüfter.
— Der Rauch kommt von seiner Pfeife — und seinem Unglück.
— Und wer ist die Frau mit den wirren Haaren und wilden Gesten?
— Das ist Urtante Bombe. Frag mich aber bitte nicht, warum sie so heißt.
— Und wer ist die, die nur im Hochsommer lüftet?
— Tante Györgyi, die friert immer. Und hat Angst, daßihre Wände — »die Wände, die Wände«- abkühlen und Kälte speichern könnten.
— Noch etwas: Ab und an wurden bei euch ältere Frauen auf dem Balkon ausgesperrt. Auch im Winter.
— Das hing mit familienexternen Unverträglichkeiten oder irgendwelchen Absprachen zusammen. Manchen Bekannten mußte man versprechen, daß sie eine bestimmte Person nicht antreffen würden — in der Regel ging es um Tante Erna. Die ist einmal steif ins Zimmer gefallen, als man sie wieder reinlassen wollte. Sie hatte ihren Mantel vergessen und traute sich nicht zu klopfen.
— Bei euch war es immer sehr lebendig, hatte ich jedenfalls den Eindruck — bei uns dagegen furchtbar still.
— Wegen der Helligkeit und der großen Fenster kann man unsere Zimmer bestimmt besser einsehen — es ist die Südseite. Aber in die Kellerfenster von Tante Peprl auf der Nordseite konntest du nie geguckt haben, jetzt ist sie schon lange tot.