— Habt ihr die Frau etwa in den Keller abgeschoben?
— Ins Souterrain, Souterrain heißt es eigentlich.
— War es bei euch nun lebendig oder nicht?
— Es war sehr unruhig, dauernd war viel los — bin deswegen leicht störbar. Ganz normal bin ich vielleicht auch nicht.
— Du übertreibst, oder? Ich kenne dich lange genug — und das würde ich dir ansehen. Ich bin von Hause aus Märchenforscherin.
— Was für eine Art Forscherin?
— Bin Märchenforscherin, nebenbei noch eine Hexe, wenn du so fragst. Ganz schön dünn bist du. Trotzdem bin ich ein realistischer Mensch. Ich möchte gern wissen, wieso du noch bei deiner Mutter wohnst.
— Stimmt so nicht. Ich wohnte aber lange in einem Zimmer mit meiner Großmutter Lizzy — auf der anderen Seite zum Park.
— He? — Naja. Die Wohnung ist groß, so viele Zimmer sind es aber doch wieder nicht. Großmutter Lizzy ist aber der liebste Mensch, den man sich vorstellen kann. Und du hast dagegen nur Väter.
— Eine Frau hätte es bei uns nicht ausgehalten.
— Was heißt das?
— Das bedeutet, daß ich einen doppelten Vaterkomplex habe, zweifachen Nelson an der Seele, genau gesagt.
— Auch nicht schlecht. Zwei Dinge müßtest du noch wissen: Ich bin von Hause aus Müllmann. Und das, was ich schreibe, sieht ziemlich seltsam aus, auch optisch. Viele behaupten, es sei eher Hackfleisch als Literatur.
— Das kann trotzdem was werden, oder? Außerdem könnten wir aufs Land ziehen, ich habe gerade ein Bauernhaus geerbt.
— Das trifft sich gut. Ich müßte hier nämlich sofort weg, sagte ich.
— Ich kann das Haus jetzt schon nutzen, teilweise jedenfalls.
— Ist das nicht Anmache, was hier jetzt abläuft?
— Du hast mich vorhin unverschämt angeglotzt, als ich aus der Tür kam. Das hätte ich mich wieder nicht getraut.
— Ich bin von Geburt an optischer Penetrator.
— Ich habe manchmal gedacht, wenn ich dich von weitem sah: Der sollte mir nicht entgehen. Ich kenne sogar deine Telefonnummer: 32 52 09.
— Was bedeutet das genau, daß du das Bauernhaus» schon nutzen «kannst?
— Jemand wohnt dort noch, eine alte Frau.
— Eine oder gleich mehrere?
— Eine echte Wiesen-, Wald- und Kräuterhexe. Man braucht da draußen dafür keinen Arzt.
— Ich muß möglichst weit weg von hier, sonst würde jeden Tag jemand zu Besuch kommen wollen. Oder einfach vor der Tür stehen.- Es ist weit genug. Und dort draußen kann man unglaublich billig leben. Was ist mit deiner Mutter, Georg?
— Die lebt jetzt auch auf dem Land. Trotzdem ist es bei uns furchtbar eng, meine Großmutter und ich kochen zum Beispiel in unserem Badezimmer.
— Für mich ist es total wichtig, daß man sich in so einem Haus ebenerdig bewegen kann. Im Grunde wohnt man auf der gleichen Etage wie die Natur. Im Winter könnten wir uns einen Pott Honig neben das Bett stellen und es uns gutgehen lassen. Selbstgemachten Obstwein trinken.
— Wie kommst du auf HONIG?
— Das kommt in einem witzigen Märchen vor. Wir werden uns aber keinen Fernseher anschaffen, nicht wahr.
— Hattest du schon Honig in den Haaren?
— Nein, hab aber keine Angst davor, wie in dem Lied von Suchy. Sollen sie kommen, die Ameisen.
— Mach mal deine Augen richtig auf, sagte ich zu ihr. Kannst du das überhaupt? Du hast so gut wie Schlitzaugen.
— Meine Großmutter war Putzfrau auf der chinesischen Botschaft. - DAS GIBT ES NICHT!!!
— Stimmt auch nicht. Du weißt doch, wie alle tschechischen Märchen beginnen:»Es war einmal, war aber auch nicht. «Meine Vorväter stammten sicher von irgendwelchen mongolischen Horden ab, nehme ich jedenfalls an. Oder von den tapferen Tataren.
— Das ist ja traumhaft. Ich komme dagegen von einem Nomadenvolk aus der Wüste.
— Das weiß ich.
— Kanntest du die chinesische Revolutionärin Nie Yuanzi? fragte ich noch.
— Nein. Nie gehört.
Wir machten eine Pause und sahen uns in die Augen. Ich grübelte darüber, wie gut man sich mit Märchenforschung ernähren kann.- Ich muß dich noch etwas fragen, sagte sie. Zwei wichtige Dinge.
— Bitte.
— Warst du schon bei der Armee?
— Bin ausgemustert, bin ein einbeiniger Fußkrüppel, wie du siehst. Ich muß dich aber auch etwas fragen.
— Bitte.
— Wie bist du politisch?
— Du wirst mich nicht verstoßen müssen, so geladen wie du bin ich aber bestimmt nicht. Jetzt aber meine zweite Frage: Liebst du deine Mutter?
— Was soll das?
— Ich will wissen, ob Georg seine Mutter liebt.
— Ich habe mich mit ihr inzwischen versöhnt. Wir sehen uns jetzt allerdings nicht oft.
— Und hast du sie gehaßt?
— Wie kommst du drauf?
— Es ist gerade mein Thema.
— Ich kann das nicht ganz leugnen. Vor einem Jahr sind wir zusammen nach Polen gefahren, das hat einiges verändert, mein Karatetraining auch.
— Und vor der Polenreise? fragte sie.
— Ich habe irgendwann angefangen, Witze zu machen, wenn sie mir auf den Geist ging. Alles wurde dadurch viel einfacher — ohne große Dramen.
— Dein Glück. Ich hätte dich sonst nicht nehmen dürfen.
— Und wenn es mit uns beiden nicht klappt? fragte ich. Vielleicht werden wir uns noch furchtbar verletzen.
— Ich buche dich trotzdem fest. Im schlimmsten Fall für mein nächstes Leben.
seine herzrhythmusstörungen überraschten ihn regelmäßig
Nachdem das Bauernhaus von Onkel ONKEL einigermaßen hergerichtet worden war — ich war etwa zehn Jahre alt — , wurde ich dorthin ab und zu mitgenommen. Ich saß mit meinen Cousinen auf der hinteren Sitzbank des alten rundlichen Wartburgs, und wegen der erhöhten Verletzungsgefahr durften wir während der Fahrt niemals einschlafen. Sicherheitsgurte waren damals noch Zukunftsmusik; und der Kontrollterror, die Gurte ordnungsgemäß anzulegen, stand Onkels Familie erst bevor. Onkel fuhr souverän, verbissen und schweigsam, wechselte die Gänge einfühlend und getriebekundig. Er äußerte sich nebenbei höchstens zum aktuellen Straßengeschehen, kommentierte das Verhalten der anderen Fahrer streng, aber gerecht. Gleichfarbige Wartburgs, die uns entgegenkamen, grüßte er mit der Lichthupe; in der Regel wurde er auch zurückgegrüßt. Manchmal gab er uns Rätsel auf, die mit der Straßenverkehrsordnung oder der technischen Ausstattung der Fahrzeuge in Verbindung standen. Wir wußten oft keine Antwort oder lösten die Rätsel — trotz richtiger Vermutungen, gleichzeitig aber angsterstarrt — in der Regel falsch. Dadurch gaben wir dem Onkel immerhin die Möglichkeit, uns beinah kameradschaftlich zu belehren.
Onkel ONKEL hatte noch nie einen Unfall verursacht und war stolz auf seine Plakette an der Windschutzscheibe:»100 000 Kilometer ohne Unfall«. Er arbeitete gerade an der zweiten. Als einmal etwa zweihundert Meter vor ihm ein Motorrad wild hin und her zu schlängeln begann, war mein Onkel leider machtlos. Der Motorradfahrer konnte das Gleichgewicht irgendwann nicht mehr halten, kipptesamt seiner Maschine und seiner hinter ihm sitzenden Frau um — und ausgerechnet zur Straßenmitte hin. Schließlich schlitterten die beiden — liegend auf der Fahrbahn — uns allen frontal entgegen. Onkel hatte bereits scharf gebremst, sagte noch kurz:
— Warum das?
Meine Cousinen und ich schliefen anweisungsgemäß nicht und sahen uns durch die Windschutzscheibe das Spektakel mit großen Augen an. Mir kam es vor, als ob uns Onkel ONKEL überraschenderweise erlaubt hätte, im Fernsehen einen aufregenden Film für Erwachsene zu sehen. Das im Liegen rasende Motorrad bremste selbstverständlich auch — besser gesagt kratzte am Asphalt mit allem, was aus ihm seitlich hinausragte, der Aufprall fiel daraufhin maßvoll aus. Weil Onkels nächste Plakette offensichtlich nicht gefährdet war und die beiden Unfallopfer schon vom Boden aus freundlich lächelten, stieg Onkel ONKEL gut gelaunt aus. Die beiden Verunfallten klopften sich mit ruhigen Bewegungen den Straßendreck ab, und nicht nur der Mann, auch seine Frau hatte die beste Laune. Es war meine erste Begegnung mit dieser Sorte von Menschen.