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An meinem Vater war es trotzdem nicht sein Bauch, der mir das schlimmste Kopfzerbrechen bereitete. Es war etwas anderes, und es war trotz meiner starken Fokussierung auf das Verfettungsthema schwer zu greifen oder gar im einzelnen zu benennen. Bekanntlich stieß ich beim Nachdenken über viel einfachere Probleme schnell an meine Leistungsgrenzen. Das Geheimnis meines Vaters umhüllte sein Wesen wie eine verschmutzte und sowieso nicht transparente Fruchtblase. Diese Blase und ihr Inhalt befanden sich außerdem in einem wilden Verwandlungsund Diffusionsprozeß. Alles faulte hier bei voller Frische, bestand größtenteils aus Abscheidungsderivaten und Fäule-Isotopen, trotzdem nahmen alle diese Stoffe an der lebenserhaltenden Zellteilung offenbar noch teil. Wobei das behütete Früchtchen — mein Vater also — sich nur als ein kleiner Bauteil dieser koagulationsgeilen Verklumpung im instabilen Aggregatzustand benahm. So gesehen schien mein Vater nur ein durchweichtes Funktionsrädchen eines gärenden Komplexes zu sein. Immerhin aber das Kernstück dieses einbetonierten Ganzen, das räumlich der Ausdehnung seiner Wohnung entsprach, rein äußerlich gesehen also seine Plattenbauwohnung genannt werden konnte. Vaters Behausung war tatsächlich kein Ding, es war ein lebendiger Organismus, monströs in seiner von Anbeginn der Auflösung geweihten Mutationsfreude. SO WAR ES, SO WERDEN DIESE SÄTZE STEHENBLEIBEN, SO UND NICHT ANDERS WIRD MEIN VATER DEFINIERT. Es ist mir tatsächlich nicht möglich — und es wird mir auch im folgenden nicht möglich sein — , meine damaligen Eindrücke etwas schlichter auszudrücken, als ich es hier und jetzt tue.

Der Schmelztiegel von Vaters Wohnung war voller verwachsungsgeiler Sprößlinge und zwang alle Einquartierten, mit der Einrichtung dieser häuslichen Hölle irgendwann eins zu werden. Die Wohnung und ihre Einrichtung umschlangen einen regelrecht, umklammerten jeden in Sekundenschnelle und umklebten ihn so vollkommen, daß man als Besucher nach dem Verlassen der Wohnung Stunden brauchte, um sich wieder freizuhäuten. Auch als Kurzzeitbesucher dieses oberflächenagilen Betonbunkers mußte man auf der Hut sein. Man wurde in den laufenden Verschmelzungsprozeß sofort eingebunden — bei Tageslicht ging es los, abends und nachts hielten einen zusätzlich und tausendfach kräftige Mikrokrallen fest. Ich, der von Sonnabend nachmittag bis Sonntag mittag durchhalten mußte, war trotz aller Vorsicht schon nach wenigen Stunden fast verloren, fühlte mich so gut wie machtlos. Und wenn ich meinen verbissenen Widerstand aufgegeben hätte, wäre ich irgendwann festgezurrt worden, ich hätte mich aus der sterbensfrohen und grenzenlos großzügigen Umarmung dieser Wohnung nie mehr befreien können. Schon etwas Trägheit hätte gereicht, um ein Mitglied dieser Endzeitgemeinde zu werden. Ich wäre dann, genauso wie die anderen, nur noch mit dem eigenen Entschwinden beschäftigt gewesen. In dieser Wohnung wurde immer schon gestorben, war mein Eindruck. Und als später alle Erwachsenen wirklich tot waren und ich die Geschichte dieser — wie ich annahm — sich fortpflanzenden Verwesungshingabe bei Freunden zum besten geben wollte, bekam ich den schlimmsten Lachkrampf meines Lebens. Ich wälzte mich als erwachsener Mensch auf einem dreckigen Fußboden und kam und kam nicht hoch. Für diesen Vorfall gibt es zuverlässige Zeugen.

Daß alle drei Behausungen meines Vaters, die ich kannte, so saftig und fruchtschwer wirkten, war natürlich kein Zufall. Die entsprechenden Keimlinge und Zersetzungsgifte, die für diese Art BELEBUNG sorgten, mußte jedesmal mein Vater eingeschleppt haben — so gesehen war er für sein früh anberaumtes Ableben unmittelbar verantwortlich. Den Rest besorgten dann die befallenen und ihn umgebenden Dinge, sie übernahmen selbst die Initiative, gaben schließlich keine Fluchtwege frei — und weil sich mein Vater in der Wohnung wenig bewegte, ging alles relativ schnell. Wenn die menschlichen und stofflichen Oberflächen moribund-biotisch zueinandergefunden hatten, wenn sie einmal miteinander in Austausch getreten waren, war die Abtötung alles lebendigen Gewebes nicht mehr aufzuhalten. Die zunehmende Fruchtigkeit aller schwammig gewordenen Gegenstände und deren porösen Häute begünstigten und beschleunigten den Gang der Dinge zusätzlich. Vaters Wohnung ließ seine Bewohner sanft schmoren, garte sie wie im Römertopf, ließ keine Dämpfe entweichen.

Die Probleme aller Wohnungen meines Vaters manifestierten sich beispielsweise in Form einer ganz speziellen Geruchsmischung, die ich nie vergessen werde und die keine Malerarbeiten auf Dauer beseitigen konnten. Aus der Perspektive der gerade angesprochenen Moribund-Biose und — Symbiose gesehen, war es im Grunde auch Vaters Todesgeruch. Der organische Charakter der Wohnung zeigte sich beispielsweise in der stark klebrigen und jeden Appetit tötenden Schicht, die überall zu ertasten war. Aus allen Oberflächenporen kam etwas Schmieriges heraus — als ob dort alle Dinge mit hochproduktiven Drüsen übersät gewesen wären. Die Menschen und Gegenstände dieser Wohnung schienen ihren Talg, ihre Sekrete und Sublimate miteinander abzustimmen, sich behutsam auszutauschen und bei dieser Produktion voneinander zu profitieren. Am Ende kam immer eine konstante Geruchs- und Schmiere-Melange zustande. Daher änderte sich an der filmigen Beschichtung und drüsigen Verfilzung der Wohnung trotz vieler wütender Säuberungsaktionen von Vaters Frau qualitativ nie etwas. Offenbar verbündeten sich die organischen und anorganischen Schutz- und Schmutzschichten dieser Wohnung miteinander, schlossen untereinander — trotz der offiziellen Zusammenarbeit mit den Menschen — heimliche Verträge ab und bildeten daher eine einheitliche osmotische Kampffront, die eindeutig gegen ihre menschlichen Koalitionäre gerichtet war. Überall knisterte und schmatzte es, auch die jungfräulich abwehrstärksten Oberflächen reagierten chemisch miteinander, entluden ihre sub-subkutane Spannung, bedrängten sich schmelzthermisch, saugten sich durch den nebenbei erzeugten Kondensationsunterdruck aneinander. Und alle sonst egal wie passiven Stoffe ließen sich dieses Vergnügen genausowenig nehmen und beteiligten sich an dem allgemeinen molekularen Treiben wenigstens als Katalysatoren. Nur die inerten Gase schauten zu und sahen, wie sich alle Beteiligten an die Wäsche und unter die Häute gingen, sich ineinander im Rückwärtsgang hineinfraßen und die gesamte Mensch-Ding-Wohnungsfüllung im Eiltempo eins werden ließen. Die Spuren dieser Prozesse verdichteten sich periodisch zu verhärteten» Baum«-Ringen, die in diesem Spezialfall von außen nach innen zu wandern schienen — bis sie im verkrebsten Wohnungskern steckenblieben.

Ich hätte im Äther von Vaters Wohnung gern nur — als wenigstens einen luftigen Haltepunkt — den separaten Geruch vom Zigarettenrauch, von frisch destillierten Exkrementen oder Angstschweiß in Rohform erkannt. Schweren Zigarettenrauch, frische Scheiße und klebrigen Angstschweiß roch man dort zwar ohne Ende, bei mir kam aber nie etwas in separater Reingestalt an — es handelte sich immer nur um hochkomplizierte Mischformen. Das Plattenbaubad und die kleine Plattenbautoilette hatten gar keinen Luftabzug.

Unglücklicherweise klebte und stank beim Vater — man wird es mir glauben müssen — auch das frisch gespülte Geschirr. Was also die muffigen Geschirrtücher beim freudlosen Abtrocknen des Geschirrs nicht entsorgt oder was sie — dies war auch möglich — an Stinkdreck eben neu verteilt hatten, dampfte und sublimierte vor sich hin und kam als unsichtbarer Angriff aus der Luft irgendwann wieder an. Alle Tassen fühlten sich fettig an, auf dem Tee schwamm immer eine glitzernde, mit einem netten Farbspektrum kolorierte Schicht voller Kurven, Kreise und Äuglein, und dem schlichten Versuch, das Licht einzuschalten, folgte oft gleich wieder das Ausschalten, weil der Finger an dem defekt-federlosen Kippschalter einfach haftenblieb. Ich faßte nur das an, was ich unbedingt anfassen mußte, und grübelte über das zusätzlich Gruselige, das nur seelisch Unhygienische und ideell Eklige, möglichst nicht nach, um meine Denkqualen nicht noch zu verstärken. Vielleicht überdehnten sich nicht nur alle tektonischen Membranen, die dort zwischen Realität und Irrwitz lagen, vielleicht quälten sich da und dort nicht nur osmotische Absonderungspumpen und belasteten sich durch artesischen Druck nicht nur gegenläufige Lippendichtungen — sicher schwitzten dort aus Solidarität auch alle anwesenden Menschenseelen. Vielleicht tropfte ihr Unglück pausenlos aus irgendwelchen der Humanwissenschaft noch unbekannten seelischen Tränensäcken. Vielleicht waren die in der Plattenbauwohnung versklavten Körper bereits damit beschäftigt, vorsorglich leichengiftigen Sauerteig zur Weitergabe an Nachgeborene anzusetzen, sich mit der Opferung der Filetstücke ihrer eigenen lebenden Substanz dafür abzustrafen, daß sie keine Sprache für ihre Qualen gefunden hatten.