Irgendwann hatte es der Onkel ONKEL nicht mehr nötig, den anderen etwas vorzugaukeln, weil er nun mal vollkommen allein war. Er bewohnte zum Schluß als der letzte Mohikaner einen abgetrennten Teil der Wohnung zum Norden hin, die übrigen Zimmer wurden teilvermietet. Seine Töchter und Enkelkinder sah er kaum. Seine Herzrhythmusstörungen bekam er mit einer üblen Regelmäßigkeit und war außerdem wegen seiner wackligen Knie nur eingeschränkt mobil. Trotzdem blieb er wenigstens partiell unternehmungsfreudig. Er besaß schon seit vielen Jahren keinen Wartburg, sondern einen Trabant — den zweitbesten Zweitakter der Welt — , und da er vor vielen Jahrzehnten einen Herzinfarkt erlitten hatte, herzrhythmusgestört und kniekollapsgefährdet war, prangte an einem Seitenfenster seines Trabants ein großer Schwerbehindertenaufkleber: ein auf die Spitze gestelltes schwarzes Dreieck auf gelbem Hintergrund, das wie ein amputierter Judenstern aussah. Die Frontscheibe seines Autos hätte inzwischen auch mit vielen»100 000-km-ohne-Unfall-Plaketten «vollbesprenkelt, vielleicht sogar undurchsichtig zugeklebt sein können — diesePlaketten gab es aber nicht mehr. Trotzdem fuhr Onkel ONKEL bis ins hohe Alter, ohne daß es von der Allgemeinheit gewürdigt werden konnte, tatsächlich unfallfrei. Als wir einmal gemeinsam zum Friedhof fahren wollten, kam ich vom Bahnhof etwa fünf Minuten zu spät. Statt auf mich in der Wohnung zu warten, saß er eingeschnappt-vorwurfsvoll-versteinert (und angeschnallt) in seinem Wagen und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. Er allein schien dabei das dürftige Innenvolumen des Trabants zu etwa drei Vierteln auszufüllen, mit seiner schlechten Laune ohnehin ganz und gar. An sich war es also egal, ob man gerade hundertprozentig schuldfrei war oder nicht wenn man zu ihm ins Auto steigen mußte, tat man es grundsätzlich, auch früher schon, mit schlechtem Gewissen.
Mein Onkel verbrachte seine meist etwas — wenn auch maßvoll — verlängerten Wochenenden regelmäßig in seinem Bauernhaus. Das Haus stand (ein großes Plus) etwas abseits des Dorfes und war leider (ein großes Minus) ein beliebtes Objekt für erfahrene oder sich einarbeitende Einbrecher. Einer der umherziehenden und die Liberalität des neuen Staates nutzenden Kriminellen brach nach seinen kurzen Gefängnisaufenthalten am liebsten immer wieder bei Onkel ONKEL ein. Und weil er sich im Haus immer gut benommen und dort ordentlich gewirtschaftet hatte (»Krümel gefegt!«), schloß ihn mein Onkel irgendwann in sein rhythmusgestörtes Herz. Während der letzten und leider etwas längeren Haftzeit schrieb ihm Onkel sogar Briefe, schickte auch einige Päckchen.
Bei der Fahrt zu seinem Haus nahm mein Onkel immer, also auch in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens, als er ein signalgelb-stolzer, trotzdem aber alles andere als lahmer Invalide war, grundsätzlich eine wilde Abkürzung durch den Wald. Trotz des geduldigen Zuredens seiner Töchter fuhr er nicht gern durchs Dorf, scheute einfach den lästigen Umweg über die Landstraße. Er könne die Waldstrecke blind fahren, argumentierte er. Dabei gab es auf dem Waldweg doch immer wieder Unfälle. Die wassergefüllten Schlaglöcher waren tief, der Huckel in der Mitte des Weges war hochgewölbt und riß regelmäßig den einen oder anderen Auspuff ab, beschädigte den einen oder anderen Unterboden; auf dem Weg lagen oft dicke Äste herum, die sich unter den Rädern unerwartet aufrichten konnten. Daß sein Trabant außerdem dauernd neue Kratzer abbekam, nahm Onkel ONKEL gelassen auf — seine Karosserie war nun mal aus Plastik.
Wirklich ernste Gefahren gingen sowieso eher von anderen Autofahrern aus. Auf dieser Strecke gab es nur wenige Stellen, an denen man den entgegenkommenden Autos ausweichen konnte. Und die vitalen Büsche an den Seiten, die niemand beschnitt, das teilweise hohe Gras und die übrige Vegetation machten den Weg zu einem regelrechten Tunnel. Die Natur wucherte den Weg teilweise so drastisch zu, daß man dort oft nicht nur nicht ausweichen, sondern die vielen Kurven erst im allerletzten Moment einsehen konnte. Und wo das Gras über die ganze Breite des Weges wuchs, war die Piste auch im trockenen Zustand extrem rutschig. Zwei andere Prager, beide ebenfalls Trabantfahrer, stießen dort einmal frontal zusammen. Beide hatten an einer Stelle — so wie jeder, der sich dort auskannte — kräftig beschleunigt, um eine besonders feuchte Mulde mit Schwung zu nehmen. Und sie konnten dann nur zusehen, wie sie trotz der gleichzeitigen Doppel-Vollbremsung dem zweifachen Totalschaden entgegenrutschten.
Der umsichtige Onkel ONKEL blieb von solchen dummen Zufällen verschont, ihm ist nie etwas derartiges zugestoßen. Trotzdem wurde eine seiner Fahrten zu seinem Haus doch seine letzte. Er hatte alle Problemzonen im Inneren des Waldes wie ein erfahrener Rallye-Fahrer passiert und gekonnt auch die letzte Kurve genommen — laut Polizei mit einem Rad auf der Böschung und dem anderen auf demHuckel in der Mitte des Weges. Auf der abschüssigen und endlich gut überschaubaren Strecke schlug die Pechfalle dann zu, Onkel ONKEL machte eventuell auch einige Fehler. Sein Hauptfehler bestand allerdings darin, daß er jahrelang bei den Reparaturen und Durchsichten seines Trabants geschummelt hatte. Als erstes rutschte er offenbar vom Bremspedal ab, und als er zum zweiten Mal — vielleicht viel zu heftig — auf die Bremse trat, versagte diese vollständig. Sein zusätzliches Pech: Mit dem Motor bremst ein Zweitakter dieses Kalibers auch bei eingelegtem Gang kaum mit. Vor Schreck versuchte Onkel ONKEL nicht einmal die Handbremse zu ziehen, sein Herz spielte wahrscheinlich auch längst verrückt.
Als das kleine Auto mit dem großen gelben Aufkleber immer schneller wurde, steuerte mein Onkel den Bach an, um in der Vertiefung des Baches möglichst sanft zum Stehen zu kommen. Dann sah er wahrscheinlich aus dem Fenster seines knautschzonenfreien Fahrzeugs und beobachtete, wie die Landschaft an ihm immer schneller vorbeiglitt. Die Krankenhausschwestern berichteten, Onkel ONKEL habe mehrmals gemurmelt:»Mittig, mittig. Immer mittig zwischen den Bäumen.«- Gab es auf der Wiese überhaupt Bäume? fragten sie.
Die Badestelle gab es nicht mehr, strenggenommen hatte es sie sowieso nie wirklich gegeben. Nachdem damals das Zapfenhaus von der Schalung befreit worden war, waren die genossenschaftlichen Raupenfahrzeuge gekommen, hatten die Beckenvertiefung ausgehoben und mit dem Aushub den Damm aufgeschüttet. Anschließend war der Durchlaß zugerammelt worden, und die Badestelle lief voll. Baden konnte ich darin leider nie. Als ich nach mehreren Wochen wieder ein Wochenende mit den Cousinen verbringen durfte, war aus dem lehmigen Wiesengrund schlimmster Schlamm geworden, der außerdem so aufgequollen war, daß die darüber trübende Wasserschicht für freieSchwimmbewegungen, vor allem der der Beine, überhaupt nicht reichte. Niemand wollte das Becken freiwillig betreten, das Waten im tiefsten Morast war anstrengend. Einmal wurde dort wenigstens — ohne mich — eine wilde Schlammschlacht veranstaltet. Dann kamen Stürme und starke Regenfälle, der ebenfalls längst aufgeweichte Damm brach durch und wurde hinweggespült. Die Wiese wurde mit der Zeit wieder eine Wiese. Nur der tief verwurzelte, zweieinige Mönch blieb wie ein Zwillingsgrab oder Doppelmahnmal stehen — mitten im Hang, umgeben von einem schmucken Brennesselbeet. Als der tapfere und bis auf einige Ausnahmen doch lebenstüchtige Onkel auf den Mönch zuraste, war der vierzigjährige Beton schon etwas bröckelig geworden, für einen Trabanten war er trotzdem ein ausreichend harter Brocken. Wenn es jemanden interessieren sollte: Den allerletzten Härtegrad erreicht Beton wesentlich früher — bereits nach achtundzwanzig Tagen, das heißt nach vier Wochen.