Der allerletzte Wunsch des Onkels mußte leider unerfüllt bleiben. Wie ich irgendwo weit vorn erwähnt habe, wollte Onkel ONKEL seine Leiche — in erster Linie aus Kostengründen — der Universitätsklinik überlassen. Also» der Wissenschaft und Forschung zur Verfügung stellen«, wie er immer wieder betonte. Weil er aber bereits obduziert worden war, nahm ihn die Uni-Klinik nicht an. Zwar habe ich — ebenfalls weit vorn, an derselben Stelle dieses Textes — versprochen, Onkels grabplattenloses Verschwinden nicht zu entweihen, seinen wahren Namen also nicht zu verraten. Ich möchte hier aber wenigstens seinen Spitznamen aus der Jugendzeit preisgeben. Die wenigen von mir festgehaltenen ERINNERUNGSRÜCKSTÄNDE haben, denke ich, ein Recht auf eine namentliche Zuordnung. Onkels Spitzname lautete KREN. In der Schulzeit nannte man meinen Onkel also kurz und bündig KREN, was im Tschechischen Meerrettich bedeutet. Über das Entstehungsgeheimnis dieses ungewöhnlichen Namens ist leider nichts bekannt, nicht einmal Onkel ONKELS Frau Eva wußte Bescheid. Einige Jahre nach Onkels Tod besuchten meine Frau und ich unsere alte Prager Gegend. Auch hier waren die meisten Immobilien inzwischen — von den alten Eigentümern oder neuen Besitzern — rekonstruiert worden. Oft waren sie nicht wiederzuerkennen, bei einigen von ihnen handelt es sich um architektonische Jugendstilwunder. Mein altes Haus schien so gut wie entmietet zu sein, ein Total-Umbau war voll im Gange. Die Eingangstür stand weit offen, wir gingen hinein. Irgendein rabiater Handwerker hatte eine Briefkastenreihe beschädigt, sie hing etwas lose und neigte sich nach vorn. Vor langer Zeit hatte sich hinter dem Kasten ganz links der tote Briefkasten meiner Kellertante Peprl befunden. Sie hatte dort ihre Einkaufswünsche deponiert — wer sie dann erledigte, war oft vom Zufall abhängig gewesen. Ich bat meine Frau, kurz stehenzubleiben, ging hin und steckte meine Hand blind in den entstandenen Hohlraum — und ich fand tatsächlich einen mit Peprls verwackelter Schrift geschriebenen, fünfunddreißig Jahre alten Zettel, ohne Zweifel ihren letzten. Sie hatte nur zwei bescheidene Wünsche gehabt:
FÜR MORGEN BRAUCHE ICH FRISCHE MILCH UND DREI BRÖTCHEN DANKE IHR LIEBEN
Nachtrag
tele-skopka des jüngsten tages
Skopka geht es mit seinem verlängerten Penis — seinem TELE-SKOP — blendend, und er ist überglücklich, sich als ein viel zu akkurater Bürgermeister vom heimtückischen Rathausleben verabschiedet zu haben. Er ist Manager und inzwischen auch Mitinhaber einer mittelständischen Hightech-Firma in Südböhmen und nachträglich — auf der ideologischen Ebene — auch innerlich mit dem ersten tschechoslowakischen Kosmonauten Vladimir Remek versöhnt, der im Jahr 1978 — also ein Jahr nach der Charta 77 und zehn Jahre nach dem Einmarsch — als der erste zu belohnende Nicht-Russe ins All mitfliegen durfte. Skopkas Firmenkompagnon ist ein tüftlerisch hochbegabter Schwabe, der viel Geld und einige frühere Ideen in dieses Joint-Venture-Unternehmen eingebracht hat und inzwischen am liebsten nur Oden auf die geschickten tschechischen Hände schreiben möchte. Der Exporthit der beiden Partner sind Teleskop-Arme für Forschungssatelliten. Sie beliefern mehrere Weltraumprogramme.
— Neulich habe ich aus Versehen deine alte Nummer gewählt — und dein Vater war dran.
— Und? fragte Skopka.
— Ich habe gesagt, daß ich mich verwählt hätte und eigentlich mit dir sprechen wollte. Und er meinte, du würdest inzwischen nur noch in Flugzeugen sitzen und sowieso nie erreichbar sein.
— Er ist neidisch.Einige Minuten später waren wir schon bei einem ganz anderen Thema. Als vor beinah vier Milliarden Jahren die ersten Bakterien angefangen hätten, sich des Lebens zu erfreuen, erzählte Skopka voller Begeisterung, hätte es auf der Erde noch keinen Sauerstoff gegeben. Die Atmosphäre sei absolut ungenießbar gewesen.
— Interessiert dich das?
— Ja, ja, grob weiß ich darüber aber Bescheid.
— Warte, es ist noch viel aufregender, als du denkst. Etwas später, erzählte Skopka weiter, also irgendwann im Laufe der nächsten Milliarde Jahre hätten die Cyanobakterien zwar die Photosynthese erfunden, mit dem Atmen und dem Genießen des Alltags sei es trotzdem nicht aufwärtsgegangen, jedenfalls nicht gleich.
In der Zeit, als Skopka und ich in unterschiedliche Gymnasien gingen, liefen wir bei unseren gelegentlichen intensiven Unterhaltungen manchmal so lange in eine Richtung, daß wir, ohne es zu merken, das ganze Stadtzentrum durchquerten und in einem der entgegengesetzten Vororte landeten. Einmal im oberen Teil von Vinohrady bei den Friedhöfen, ein anderes Mal in Pankräc — eine ganze Weile nachdem wir über die neue Brücke das Nusle-Tal überquert hatten. Danach liefen wir die sechs bis acht Kilometer wieder zurück. Diesmal redeten wir am Telefon, und das Gespräch, in dem es um unsere Väter und um die ruhmreiche Geschichte der Cyanobakterien ging — außerdem um die Gefährlichkeit, genaugenommen Giftigkeit von Sauerstoff und um weitere evolutionsrelevante Dinge — , zog sich in die Länge.
— Die ganze Erde, also ihr gesamtes Oberflächen-Eisen, rostete Dutzende Jahrmillionen einfach vor sich hin, amüsierte sich Skopka. Appetitliche Wesen wie du und ich hätten niemals genug zum Atmen abbekommen.
— Vielleicht hätten wir gelernt, Eisenoxydkekse zu verwerten.- Kann sein, die Bakterien konnten das aber nicht. Viele Arten gingen an Sauerstoffvergiftung einfach zugrunde. Einige haben sich zum Glück aber verkrochen, sich auf die Lauer gelegt, und manche davon — also diese Viecher von damals, stell dir das vor — LEBEN HEUTE IN UNSEREM DICKDARM!
Skopka saß gerade in einem Tokioter Hotel und wollte sich auf keinen Fall langweilen. Nachdem wir mehrere lebbare Fortsetzungsszenarien der Erdgeschichte durchgespielt hatten, einigten wir uns auf eine Abschlußerklärung: Es hat noch furchtbar lange gedauert, bis man hier auf Erden gefahrlos husten und schimpfen konnte, sich Penisse verlängern lassen und sich über eine Satellitenverbindung etwas erzählen konnte.