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Ich witterte bei meinem Vater vorsichtshalber immer nur das Schlimmste, meine sensorischen Vorverstärker liefen dauerhaft auf Hochtouren. Und ich kam gezwungenermaßen zu der Überzeugung, alle um meinen Vater versammelten Menschen trügen in sich furchtbare Geheimnisse — und zwar solche, die nur mit dem Tod gesühnt werden konnten. Und diese seien so schlimm, daß die armen Geheimnisträger sie auch voreinander verbergen mußten, womöglich auch vor sich selbst. Mehr als logisch wäre dann, daß der einzige Kanal nach außen, die einzige Erleichterungsmöglichkeit, die ihnen allen zur Verfügung stand, das stille Absondern ihres saftigen Innenfluidums war — ein Absondern in Form von seelischem Smog. Ihnen schien am Ende doch nichts anderes übriggeblieben zu sein, als ihre unter Hochdruck produzierten Feinzuckungen, ihren in allen Organen vibrierenden Ekel in den Äther zu schicken — amplituden- oder frequenzmoduliert, wie auch immer.

Möglicherweise waren aber die Geheimnisse, über die ich jetzt spreche, nicht wirklich unaussprechbar. Wie schon angedeutet: Vielleicht waren diese Dinge allen Beteiligten einfach nur peinlich, und peinlich wäre ihnen sicher auch gewesen, wenn sie hätten zugeben müssen, als Erwachsene nicht in der Lage zu sein, sich aus eigener Kraft von ihnen zu befreien. Vielleicht war die schmierige Paste, die sich in Vaters Wohnung überall aufhielt, eben nur diese zum Material gewordene Peinlichkeit. Man muß außerdem bedenken, daß verzweifelten und seelenabwesenden Menschen pausenlos viele Unachtsamkeiten unterlaufen. Rein sachlich gesehen bestand der schmierige Klebefilm eventuell aus adhäsionsstarken Dreckpartikeln und nach und nach koagulierten Dispersionen, die sich mit den Jahren einfach angesammelt hatten und schließlich — ähnlich wie oxidiertes Fett — verharzten. Im Hinblick auf ein derartig dümmliches und daher schutzwürdig-schambehaftetes Unvermögen — ein Unvermögen, auch über die banalsten Dinge offen zu sprechen, ein Unvermögen, sich klebefrei zu halten und aufeinander zu achten — war es allerdings besser, denke ich heute, daß auf dieses Unvermögen ein Nachrichten-Embargo gelegt wurde.

Zusätzlich zu der üblen Geruchstragik war Vaters letzte Wohnung, die er als Spitzendiener des Staates in einer modernen, frisch hochgezogenen Neubausiedlung zugeteilt bekam, im Winter immer überheizt. Und in dieser Hitze dampfte alles doppelt intensiv. Der fensterlose und mit einem nur angedachten Dunstabzug versehene Küchenkern steckte praktisch in der Mitte dieses luxuriösen Vegetierkäfigs. Und obwohl sich der Küchendunst dann in allen übrigen Räumen gut ausbreiten konnte, fühlte sich die dortige Luft trotzdem immer trocken an. In Vaters Wohnung erlebte ich meine Schleimhäute als evolutionär nur mangelhaft ausgereift, meine aufgequollenen Kopfinnenräume befanden sich beim Vater dauerhaft im Ausnahmezustand. Hinzu kam noch der Beitrag meiner Großmutter Ludmila, die — als sie senil geworden war — in die Familie aufgenommen wurde; und diese wusch sich kaum. Außerdem war noch mein scheißender und schreiender Halbbruder da, und außerdem die Angorakatze, die in der winterlichen Fernhitze besonders gelitten und geruchgedampft haben muß. Die vielen Pflanzen und ihre Humusböden atmeten ebenfalls pausenlos, und in den wenig gelüfteten Matratzen brüteten und vermehrten sich garantiert gewaltige Milbenstämme. Apropos Pflanzen: Einer Palme mit vielen vitalen Luftwurzeln ging es in Vaters Wohnung so prächtig, daß sie bald die ganze Fernseh-Ecke in Beschlag nahm und den Fernseher bedrohte. Dieses tropische Ungeheuer profitierte anscheinend — als einziges dort gefangengehaltenes Geschöpf — von den vielen Dünsten, Dämpfen und dem undurchdringlichen Gefühlsdschungel der Wohnung, mästete sich pausenlos an dem Harz der Lüfte und der Ranzigkeit ihrer Niederschläge. Gerüche der Sexualität kannte diese Wohnung zum Glück nicht. Sonst wäre sie eines Tages vielleicht zerlaufen wie ein fünfzigjähriger Camembert.

Der Unterschied zu meinem Zuhause war himmelschreiend. Offiziell war unsere gut gelüftete Wohnung zwar so gut wie eine reine Frauenunterkunft, Sexualität gab es dort trotzdem. Sich in meine Mutter zu verlieben war nicht schwer. Alle männlichen Besucher wurden mit so viel Charme und Liebreiz behandelt, daß es bei uns vor männlicher Sehnsucht nach MEHR, also nach einer egal wie befriedigenden Steigerung, aus allen Ritzen nur so quoll. Und schon kurz nachdem der aktuelle Liebhaber meiner Mutter abends angekommen war, machten die beiden auf Mutters dünnbeinigem Sofa Geräusche. Ihre Männer mußten nämlich bald wieder nach Hause. Dort warteten ihre Ehefrauen mit dem inzwischen kalt gewordenen Abendbrot auf sie.

Bei meinem dicken, im Wrasenbad weichgegarten Vater gab es so etwas nicht. Seine Wohnung war männlich, asexuell, bedürfnislos — hier herrschten Härte und gewisse Männerprinzipien. Er kochte aber auch gern — und am Wochenende sogar exzessiv. Ein halbes Jahr lang dann immer die gleiche Spezialität. Mein Vater hatte den Dienstgrad eines Majors, und in seinem Schrank stand ein Jagdgewehr. Dieses wurde ab und an auch benutzt, sogar innerhalb der Wohnung. Er selbst konnte aber auch mit bloßen Händen töten, wenn er wollte — und sei es mit einer zusammengefalteten Zeitung, log er mir gern vor. In dieser von einem Krieger dominierten Wohnung, der vierzig bis sechzig Zigaretten am Tag rauchte, gab es keine nächtlichen Geräusche. Als wir bei einem Ausflug ein Pärchen mit einer zusammengefalteten Decke dabei erwischten, wie es sich ein Paarungsversteck suchte, meinte mein Vater kennerhaft — obwohl sein Fach eher die Spionageabwehr war — , Sex sei gesund. Mir wurde sogar im Urlaub freigestellt, in welchem Raum ich schlafen wollte: bei den beiden Eheleuten oder zusammen mit der senilen Oma und meinem Halbbruder, der lange Stunden, manchmal die ganze Nacht, im Bett hin und her wackelte. Aus Mangel an Zuwendung, wie ich heute weiß. Ich entschied mich — es war zweimal der Fall — für die komfortablere Möglichkeit. Mein Vater hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, hatte ich das Gefühl — er wollte mich bei sich haben.

— Du kannst gerne hier schlafen, kein Problem, Georg.

Ich kann mich an den fassungslosen Gesichtsausdruck seiner Frau erinnern. Zu einem lauten Protest fehlte ihr die Kraft. Und ich meinte damals, das zu verstehen. Unserem dicken Herrscher zu widersprechen hätte lebensgefährlich sein können. Alle, die kleiner oder schwächer waren als er, mußten sich vorsehen, dachte ich. Vorausgesetzt, sie wollten nicht wie eine mit der Zeitung an die Wand geklatschte Fliege enden. Dabei war er, der Idiot von Vater, so furchtbar schwach! Er, mein Erzeuger, dieses Häufchen Unglück, war ein lahmer Käfer, den man nicht einmal in eine hinuntergeregelte Zentrifuge hätte stecken müssen, um ihn auf die Bretter zu hauen. Er war seit langem so weit, daß er jederzeit an seinem verkalkten, tabak- und alkohol-imprägnierten Inneren zu krepieren drohte. Es hätte gereicht, ihn nur mit einer Fingerkuppe anzurempeln — er wäre glatt wie eine Rotzblase geplatzt.

in seiner socke steckte eine heisse und vollkommen trockene gewehrkugel

Mein Vater war nicht nur dick, er war auch klein. Bei der Spionageabwehr war er nicht nur kraft seines Klassenbewußtseins gelandet, sondern weil er sich dem Wehrdienst hatte entziehen wollen. Und ein einigermaßen treuer Staatsdiener war er nicht aus Dankbarkeit, sondern aus purer Faulheit — in anderen Berufen, auch als ein aktiver Spion, hätte er sich viel mehr anstrengen müssen, hätte zeigen müssen, was er wirklich konnte. Bei der Abwehr reichten ihm dagegen seine Intelligenz, seine destruktive Menschenkenntnis und seine Begabung als Großmaul. Er war öfter bei internen, natürlich streng geheimen Schulungen, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er sich dort — der gnadenlose Ironiker — aufführte: Er wußte mit Sicherheit alles besser als die besten Ausbilder seines Ministeriums. Auch zu Hause vor dem Fernseher war er immer nur dabei, die Unfähigkeit, Lächerlichkeit, abgrundtiefe Dummheit der vielen Pappnasen zu kommentieren, die sich auf dem Bildschirm als Moderatoren, Sänger oder Schauspieler abmühten. Aber nicht nur alle Spitzenleute unserer Unterhaltungsbranche waren Nullen und Arschlöcher, deren Leistungen kein Lob verdienten; genausoviel Ausschuß produzierten die besten Journalisten des Landes, ohne Ausnahme auch diejenigen, die in derselben Literaturzeitschrift wie meine Mutter arbeiteten oder publizierten. Diese Leute konnten gar nicht schreiben! Und natürlich waren auch unsere Spitzensportler nur mittelmäßig — sie waren für die Weltspitze zu langsam, zu schwach, zu ungeschickt, um bestehende Rekorde zu brechen oder um irgendwelche lahmen Torhüter zu überlisten. Vater saß bei seinen Urteilsverkündungen in seinem von der Angorakatze zerfetzten Fernsehstuhl, rauchte hintereinander seine Zigaretten und sprach letztinstanzlich.