Vieles mußte ich meinem Vater leider auch abnehmen, er argumentierte meistens sehr treffend und gewitzt. Und die damalige Unterhaltungsmaschinerie war wirklich fürchterlich. Daß aber alle Kollegen meiner Mutter, auf deren Artikel das lesende Volk Woche für Woche sehnsüchtig wartete, nicht schreiben können sollten — das war mir zuviel. Als ich es in diesem Punkt einmal wagte, ihm zu widersprechen und gleichzeitig meine Mutter zu loben, war er gnädig mit mir.
— Es ist nett von dir, daß du deine Mutter in Schutz nimmst, Georg. Ich kenne die ganzen anderen Jungs aber von früher, ich kenne diese Möchtegerne noch vom Studium — und besser als du oder deine Mutter.
Mein Vater hatte auch seinen Ehrgeiz gehabt, saß seit langem aber auf einer kleinen Trümmerhalde. In seinen armseligen Spionagealltag waren alle seine anderen Vorhaben schwer zu integrieren. Er fotografierte ab und zu wie besessen, um die anschließenden Arbeiten im umgeräumten Badezimmer bald wieder abzubrechen und auf später zu verschieben. Er besaß außerdem drei erste Kapitel dreier Romanprojekte. Später spielte er sich nur noch als Historiker auf und versuchte, anhand von hussitischen und anderen Chroniken zu beweisen, daß die Tschechen nicht nur im fünfzehnten Jahrhundert ein Volk von Kämpfern gewesen waren, sondern es noch viel länger geblieben sind.
Letzten Endes konnte er uns allen und der Umwelt aber nichts wirklich Abgeschlossenes vorlegen und vor allem keine Erfolge vorweisen. Einiges konnte er allerdings sehr gut: glückspendende Zigaretten in seinen braungelben Fingern hin und her rollen und seine große Klappe in Gang halten.
Manchmal waren bei ihm bekannte Filmregisseure zu Besuch, die mit seiner Frau, die Dramaturgin war, beruflich zu tun hatten. Man verband auf diese Weise Berufliches, Privates und Geheimdienstliches. Vaters Frau hatte mit diesen Leuten nämlich DOPPELT zu tun, wie ich jetzt weiß. Sie arbeitete inoffiziell als Agentin für Vaters Ministerium, allerdings für keine Auslandsabteilung, sondern für eine, die die einheimische Kultur beäugen und behorchen sollte. Aus Sicherheitsgründen sah man das natürlich gern, wenn sich auch der andere Partner für die Firma einspannen ließ.
Die erwähnten Besuche der Regisseure bedeuteten unmenschliche Qualen nicht nur für sie als Künstler, sondern auch für mich, obwohl ich noch ein Kind war und zum Glück kein Regisseur werden wollte. Mein Vater kam nach den ersten Qualitätsschnäpsen, die er auch den Regisseuren aufgezwungen hatte, in Fahrt und hatte es oft gar nicht nötig, einen Schönheitswettkampf auszurufen. Mit Hilfe einiger boshafter Floskeln und mehrdeutiger Unterstellungen wurden diese Kunstschaffenden in eine geistige Kipplage gebracht, durch fortgesetzte Alkoholisierung geschwächt — und sie konnten Vaters Frontalattacken immer weniger entgegensetzen. In ihren Augen sah man bald schon leichte Angst. Mein Vater knöpfte sich vor allem die letzten Arbeiten dieser Filmleute vor und begann, sie ironisch auseinanderzunehmen. Er kratzte gezielt an den wunden Stellen ihrer Kreationen und trampelte punktgenau auf den Unstimmigkeiten, die aus ästhetischen, sachlichen oder geschichtlichen Gründen am peinlichsten waren. Zu einer dieser Attacken lieferte ich sogar persönlich scharfe Munition, als ich vollkommen naiv zugab, einen dieser anti-kolonialistischen Filme nicht verstanden zu haben. Mein Vater atmete tief ein und strahlte. Daß sein Sohn vielleicht etwas denkschwerfällig-begriffsstutzig sein könnte, kam für ihn nicht in Betracht.
— Dieser Film soll auch etwas für die jungen Leute sein? Die Jugend kommt aus dem Kino noch dümmer raus, als sie schon ist! Warum muß man eine so einfache Geschichte so chaotisch erzählen, sag mal? Mein Vater war auf einigen Gebieten nicht ungebildet, und psychologische Methoden bei der Menschenjagd — beim Aushorchen, Austricksen oder Ausquetschen des Menschenmaterials — waren sowieso seine Spezialität. Nachdem sich die Filmleute die Tiefe ihrer Kränkung hatten anmerken lassen, hielt es mein Vater auch nicht für nötig, gnädiger zu sein. Er erzählte besonders unglaubwürdige Szenen nach, überzeichnete sie und lachte herzlich — und drängte die armen Würstchen von Regisseuren dazu, wenn nicht herzlich, dann wenigstens genauso laut zu lachen wie er. Vaters absurde Kommentare waren teilweise tatsächlich begnadet gut formuliert. Und so lachten die landesweit bekannten Männer letzten Endes über ihre eigene Mittelmäßigkeit und über die ihrer Mitstreiter. Oder sie grinsten wenigstens. Dabei schrumpften sie auf ihren Stühlen sichtlich, wurden immer unkonzentrierter und bereiteten sich innerlich auf den Absprung vor — wenn nicht sogar auf den Sprung aus dem Fenster. Für die weitere Belebung dieses Krampfeinanders mußte wieder mein gnadenloser Vater sorgen, er holte einfach zum nächsten Schlag aus.
Ich konnte dabei wenigstens meine Studien treiben und über die Macht des Spottens nachdenken; und darüber, wie leicht sich auch gestandene Männer in wehrlose Geschöpfe verwandeln ließen. Das Pech dieser Leute war, daß sie ausgerechnet dank ihrer Leistungen, die einiges an Vorlieben, Leidenschaften und Sichtweisen verrieten, vor meinem Vater wie nackt dastanden. Mein Vater hatte dagegen absolut nichts zu befürchten — seine nur angefangenen Werke kannte niemand. Und weil über seine eigentliche Arbeit nicht gesprochen werden durfte, konnte auch die Lächerlichkeit seines bürofaulen Abwehrkampfes niemals zutage kommen.
Dies war gleichzeitig aber auch sein Pech. Ausgerechnet dieser hundertfach frustrierte Mensch durfte das wenige, womit er sich hätte vielleicht doch brüsten können, nicht bekanntgeben. Heute kann ich mir etwas besser vorstellen, welche Qualen der Ärmste erleiden mußte, wenn er auf immer und ewig dazu verdonnert war, über seine Berufserlebnisse und — heldentaten außerhalb seiner Zirkel zu schweigen. Der kleine Dickmoppel brauchte aber unbedingt etwas, womit er sich größer machen konnte. Für den Verkehr mit der Außenwelt blieb ihm daher nichts anderes übrig, als mit frei erfundenen Phantasiegeschichten anzugeben. Da ihm dabei alle künstlerischen Freiheitstüren und — tore offenstanden, enthielten seine Geschichten höchstens nur harmlose Geheimnissplitter, sicher keine schutzwürdigen Geheimnisse.
Bei der Verschleierung der ministerialen Interna, aber auch bei der überaus qualifizierten Arbeit selbst half ihm sicher, daß er andere Menschen immer schon gern getäuscht hatte. Er habe auch als junger Mann dauernd gesponnen, erzählte mir meine Mutter mit leuchtenden Augen — sie bewunderte ihn für seine erzählerische Begabung immer noch. Trotzdem warnte sie mich vor seinen bunten Geschichten und verriet mir, daß mein Vater schon aus Prinzip lüge, das Lügen als Sport betreibe und Dinge auch vollkommen zweckfrei und grundlos erfinde. Bald konnte ich es mit Hilfe unseres Telefonbuchs nachprüfen: Mein Vater dachte sich tatsächlich Adressen und lange Telefonnummern aus. Sicher nur deswegen, um sich für sein exzellentes Gedächtnis loben zu lassen. Bei Spaziergängen erklärte er im guten Deutsch irgendwelchen Touristen den Weg, gab mir gegenüber dann aber zu, die Leute ins Ungewisse geschickt zu haben. Bekannten erzählte er von Urlaubserlebnissen, die — wie ich wußte — so nie stattgefunden hatten.