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Einmal nahm mich mein Vater sogar auf eine Spionjagd mit. Wir brachen etwas unvermittelt ohne besondere logistische Vorbereitungen auf, schien mir. Und wir fuhren ausgerechnet in ein Waldstück in der Nähe, das ich von unseren regelmäßigen Wochenendausflügen gut kannte. Es war schon dunkel, im Fernsehen liefen die besten Sonnabendsendungen. Der Spion kam tatsächlich vorbei und wurde mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich auf den dreckigen Boden zu legen.

Mein Vater fesselte ihn gekonnt, der Mann benahm sich dabei zahm wie ein Kind. Anschließend bekam ich die entsicherte Waffe in die Hand gedrückt, und mein Vater ging, um Verstärkung zu holen. Das Gerede des Mannes, er wäre in der Lage, mit seinem gepanzerten Ferrari die Grenzanlagen zu durchbrechen und mit mir in den Westen zu fliehen, ließ mich kalt. Und ich hatte tatsächlich keinen Grund, mich auf ein abenteuerliches Leben mit irgendwelchen fremden Männern einzulassen. Warum sollte ich? Warum sollte ich meine duftende Frauengemeinschaft verlassen? Die Aussicht, im kapitalistischen Ausland ein adäquates Frauenparadies zu finden, war gleich null.

Mein Vater kam bald ohne eine schwerbewaffnete Kampfeinheit zurück und war stolz auf mich. Er erklärte die Aktion für beendet und konnte nicht aufhören, mich für meinen Mut, meine Umsicht und Prinzipientreue zu loben. Er und sein längst wieder entfesselter Freund meinten, ich wäre für den Beruf eines Spionenjägers bestens geeignet. Als Ergänzung zu dieser praktischen Übung erläuterte mir mein Vater unterwegs — das tat er mindestens einmal im Jahr — den Unterschied zwischen Taktik und Strategie im Kampf der politischen Systeme. Diese Theorie gehörte zu seinem Lieblings-Fragenkomplex. Nebenbei versuchte er mir oft noch eine andere Wahrheit einzuhämmern:»ALLE ÄRZTE SIND DUMM. Egal, wieviel sie beim Studium gebüffelt haben, sie sind dumm und bleiben dumm.«

Seine Lügereien nahmen kein Ende. Ich versuchte, wachsam zu sein, glaubte meinem Vater manchmal aber doch. Nachdem das erste sowjetische Passagierflugzeug mit Düsenantrieb (die Tu 144) das erste Mal in Prag gelandet war, war mein Vater bei den nachfolgenden gefährlichen Testflügen angeblich mit an Bord. Als eine Frühjahrsflut eine neuerbaute Moldau-Talsperre bedrohte — Prag wäre nach einem Durchbruch weggespült worden — , saß er nicht irgendwo in Sicherheit auf der Lauer, nein! Er saß — erzählte er mir jedenfalls — tapfer unten im Talsperrenbau. Dort an dieser zentralen und so gefährlichen Stelle wurde er dringend gebraucht. Er bewachte das Bauwerk klugerweise von innen, hörte, wie die Betonwände ächzten. Nachdem die Militärfahrzeuge die ersten Nachtsichtgeräte bekommen hatten, steuerte er einen Panzer sogar eigenhändig durch die Nacht. Und als geheime Akten aus einem See in Südböhmen geborgen wurden, zog er die erste Kiste aus dem Wasser ins Boot.

Da ich immer zu strengstem Stillschweigen verpflichtet wurde, machte ich mich in der Schule zum Glück nicht dauernd lächerlich. Dummerweise dachte sich mein Vater aber gern auch technische Neuerungen aus — und diese waren alltagstauglich. Ich konnte es wagen, über sie frei und in aller Frische zu berichten. Leider waren es wieder nur aus Vaters technischem Unwissen geborene Phantasmagorien. Als ich diese Neuigkeiten stolz meinen Freunden zum besten gab, lachten sie mich gnadenlos aus.

— Eine magnetische Autobahn, auf der man nicht lenken muß? Georg — bist du total bescheuert? Man lachte und lachte über mich, und ich hütete mich davor, meinen Vater diesen Haien zum Fraß vorzuwerfen. Diese Auslacherei hätte er sich nämlich niemals gefallen lassen. Er hätte sein Gewehr genommen und sich gerächt. Mit seinem Gewehr spielte er gern, und er war weit und breit der einzige bewaffnete Mann, den ich kannte. Als sein Gewehr eines Tages in der Wohnung losging, erlebte ich ihn allerdings zum ersten Mal ernsthaft besorgt. Ich stürzte nach dem Schuß ins Zimmer. Er schrie:

— SCHEISSE, SCHEISSE, SCHEISSE!

Mein Vater hielt sich am Bein fest, und in seinen Augen war nackte Angst. Wie sich aber herausstellte, galten die Sorgen dieses harten Mannes nicht unbedingt der Verletzung, sondern dem zu erwartenden Ärger in seiner Behörde. An diesem Tag begriff ich, daß er dort offenbar wiederholt schlimmsten Unfug angestellt haben mußte. Ich zog ihm vorsichtig seine Hose herunter und hielt auf seinen schönen Beinen Ausschau nach fließendem oder spritzendem Blut.

— Es fühlt sich so heiß an, das ist Blut — wie 1945. Ich kenne das von den Barrikadenkämpfen.

Er blutete aber nicht. In seiner Socke steckte bloß eine heiße, verformte und vollkommen trockene Gewehrkugel. Diese hatte er sich nämlich nicht direkt ins Bein geschossen, sie war von der Betonwand seines massiven Plattenbaus abgeprallt, hatte sich durch den Stoff seiner Hose gebohrt und war — heißer als jedes Blut — unter einer losen Socke gelandet. Mein Vater war natürlich trotzdem ein potenter Schütze und konnte wirklich alles treffen, was er wollte. Selbst wenn sein Ziel die Schwanzfedern eines Fasans waren, den er nur der Übung wegen anvisierte und gar nicht töten wollte. Mein Vater lud wiederholt einen Vertreter der königlich-niederländischen Fluglinie KLM zu sich zu Besuch, weil er ihm offenbar irgendwelche Geheimnisse abluchsen wollte — und dies gelang ihm eines Abends tatsächlich. Die beiden tranken sich gemeinsam gute Laune an, brüllten vor Lachen, verschwanden immer wieder im Bad. Und als der nette Verräter des niederländischen Volkes und der ganzen westlichen Welt auf der Toilette war, vertraute mir mein Vater die Brisanz des Augenblicks tatsächlich an.

— Er hat unserem Land einen großen Dienst erwiesen, einen ganz großen.

Wenn ich mich nicht irre, war dies das einzige Mal, daß mein Vater in meinem Beisein etwas Echtes, wirklich Staatsgeheimes preisgab — jedenfalls den Vollzug einer Abschöpfung andeutete. Offenbar war er nicht nur dank des Alkohols so weich geworden, sondern war auch von seiner Leistung ganz und gar überwältigt. Ich stand ihm in diesem großen Moment als einziger Mann unmittelbar zur Seite, wir beide machten in dem Moment vielleicht Geschichte — ähnlich wie später Michail Gorbatschow und Helmut Kohl. Der niederländische Verräter kam bald von der Toilette zurück, bekam sein nächstes Schnäpschen, und mein Vater zog sein Gewehr aus dem Schrank. Zur Feier des Tages sollte jetzt richtig geballert werden, ein solcher Coup gelang einem nicht jeden Tag. Mein Vater machte das Fenster auf und suchte nach geeigneten Zielen. Er kannte keine Angst — und vor der Härte der sozialistischen Gesetze mußte er sich nicht sonderlich fürchten. Das Gelände um die Neubauten herum war noch vollkommen zerwühlt und öde, für die Plattenbaukinder war es trotzdem ein beliebtes, weil einziges Auslaufgebiet. Die beiden Männer schossen bald auf weit entfernte Pfützen und freuten sich dabei wild, wie hoch das Wasser spritzte — wenn sie die Pfützen also getroffen hatten. Spielende Kinder sah man in der einsetzenden Dämmerung nicht, zum Glück hörte man aus der Umgebung der Pfützen später auch keine Schmerzensschreie. Vaters Frau hatte sich vorsichtshalber schon vor einer Weile in die Küche verzogen. Ich blieb die ganze Zeit bei den Männern und war von einem seltenen Hochgefühl erfüllt. Ich wußte, daß der tschechische Staat beim Kampf gegen das blutsaugerische Kapitalistenpack gerade ein großes Stück vorangekommen war.

Natürlich hatte mein Vater auch seine sentimentale Seite. Als er einmal vom Begräbnis eines seiner Kollegen kam, weinte er bitterlich. Der tapfere Genosse war angeblich bei einem gefährlichen Einsatz ums Leben gekommen. Ich war mir in diesem Fall aber ziemlich sicher, daß dieser Mensch einer der vielen Toten an der Infarktfront war.