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Zu Vaters Beruf gehörte natürlich ein beachtliches Machtgefühl — und dieses tat ihm sicher gut. Daher gab er einige abgestandene Randinformationen aus seinem Berufsleben nebenbei doch preis. Manche davon — aus den fünfziger Jahren, die knallhart waren — erzählte er immer wieder. Zu den einigermaßen erzählbaren Highlights gehörte die Geschichte von einem Friseur, den er direkt in seinem Laden verhaftete und dem auf dem Weg zum Auto sein Darminhalt aus den Hosenbeinen tröpfelte. Oder von einem Klassenfeind, der nicht reden wollte und dem er, da dieser mit dem Gesicht zur Wand stand, immer wieder seinen Kopf gegen die Wand knallte. Oder von einem, der aus dem Fenster — aber nur aus dem ersten Stock — auf einen leeren Kinderwagen sprang, obwohl mein Vater eigentlich nur in aller Ruhe mit seinem Mitbewohner reden wollte. Da tapferen Männern wie ihm — jedenfalls in den Anfangsjahren des Bereinigungskampfes — so gut wie alles erlaubt war, muß ich leider annehmen, daß mein Vater auch tötete.

Am aufregendsten waren seine Geschichten aus der ansonsten nicht übertrieben ruhmreichen tschechischen Widerstandsbewegung während des Protektorats. Sein blutiger Kampf gegen die nazistischen Okkupanten, seine Sabotageakte, sein listiges Vorgehen während des illegalen Vertriebs von Flugblättern und des illegalen» Rüde prävo «waren unglaublich — auch weil er während des Krieges noch so jung gewesen war! Wie kurzsichtig und dumm seine Lügen waren, erfuhr ich etwas später in der Schule. Beim Lesen des Standardwerks über die Widerstandsbewegung, das» Die stumme Barrikade «hieß und zur Pflichtlektüre ersten Ranges gehörte, stellte ich fest, daß ich viele dieser Geschichten bereits kannte. Sie waren mit Vaters nur etwas anders ausgestalteten Versionen fast identisch.

Daß mir mein Vater kaum etwas Bewunderungswürdiges präsentieren konnte, was aktuell sichtbar und unkompliziert nachweisbar gewesen wäre, registrierte ich schon relativ früh — allerdings nur sehr dumpf. Bis ich den vernichtenden Blick auf seine Bruchbudenzauberkünste wagen, seinen fortgeschrittenen Zerfallsgrad diagnostizieren und meinen Vater endlich aufgeben konnte, dauerte noch etliche Jahre. Ich wollte ihn vor dem vollständigen Glanzverlust so lange wie möglich bewahren. Auch jede Hochkultur schützt seine Helden mit allen Mitteln, bringt gern lästige Zeugen zum Schweigen, egal, wie authentisch ihre Zeugnisse sind.

Mein heldenhafter Vater brannte sich beispielsweise mit einem Ätzstift, dem sogenannten Höllenstein, eigenhändig agile Hautwucherungen ab, die ihm nach seinen gnadenlosen Rasuren immer wieder nachgewachsen waren. Sie nur mit der Rasierklinge abzuschneiden reichte einfach nicht, die Huckel wuchsen immer wieder nach. Er lachte bei seinen Höllenstein-Operationen wie der Teufel persönlich — und er besiegte die bösen Hautzellen tatsächlich, letztendlich mit der Kraft seines Willens, denke ich. Dabei handelte es sich bei diesen Wucherungen vielleicht um frisch keimende Krebsgeschwüre. Mein Vater kannte keinen Schmerz und auch gar keine Angst vor Krankheitserregern. Das demonstrierte er mir gern an seinem Unterarm. Er zog dort seine Haut hoch, stach sie mit einer langen, nicht desinfizierten Nadel aus dem Nähkästchen durch und ließ den Hautstreifen los. Die Spitze und das Nadelöhr blieben auf der Oberfläche sichtbar, der Mittelteil der Nadel lag unter der Haut. Mein Vater war sozusagen eingefädelt, ich hätte an ihm farbige Muster sticken können, meinte er. Vielleicht war sein Blut längst voller Keime. Mein Vater war aber nicht nur hart gegen sich selbst, er schoß in seinem Leben gnadenlos auch einiges an Kleinvieh ab, schoß in meinem Beisein sogar einige Hasen lebensgefährlich an — diese konnte er dann ohne einen Jagdhund allerdings nicht verfolgen. Mit den noch kleineren Tieren ging es etwas besser, und so wäre er theoretisch doch in der Lage, mich in der freien Wildbahn zu ernähren. Einmal killte er ein Eichhörnchen zum Abendbrot und briet das zarte Tier in der Öffnung eines Kohlenofens, bis es tiefschwarz war. Nach diesem Urlaub in der wunderschönen und naturgeschützten Wildnis bekam ich von ihm ein echtes Luftgewehr geschenkt. Die Durchschlagkraft meiner Bleikugeln reichte leider absolut nicht für irgendwelche finalen Tötungsakte. Ich konnte gerade mal Singvögel kurz betäuben, falls ich sie zufälligerweise direkt am Kopf traf.

Die Vereinbarung zwischen meinen Eltern sah vor, daß ich meinen Vater jedes Wochenende besuchen sollte. Daß ich mich dieser verhaßten Pflicht irgendwann hätte widersetzen können, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich versuchte nicht einmal, mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Vielleicht auch aus Rücksicht auf ihre Wochenendruhe, die sie seit ihrer überstandenen TBC unbedingt nötig hatte. Sie war sowieso nie sehr belastbar. Ihr Freund hatte an den Wochenenden in der Regel familiäre Pflichten, sie konnte sich ausschließlich ihrer eigenen Regenerierung widmen.

Zu meinem Vater trieb mich also einerseits die Rücksicht auf meine Mutter, andererseits das mir vorschwebende Gebot, meinen Vater auf keinen Fall verletzen zu dürfen. Außerdem lauerte auch eine Art diffuser Furcht in mir. Ohne mich wäre mein Vater ohne Halt, seine Wochenenden wären ohne mich vollkommen leer — und eines Tages hätten sie eventuell böse enden, hätten sogar in einem Amoklauf in Wild-Ost-Manier gipfeln können. Mir war, als ob ich in Vaters explosiver Hölle dringend gebraucht würde. Also fuhr ich jedes Wochenende zu ihm — in der Hoffnung, mein Vater würde sich noch eine Weile über Wasser halten. Aus Angst vor den dort zu erwartenden Peinlichkeiten wurde ich schon unterwegs immer unsicherer. Je näher ich dem Plattenbaughetto kam, desto verstockter wurde ich und riegelte mich ab. Als ein pädophiler junger Mann, der in der Straßenbahn neben mir saß, mir unter meiner auf den Schenkeln liegenden Tasche an die Eier ging, reagierte ich nicht.

— Fühlst du nichts? fragte er mich neugierig und überaus freundlich. Wie heißt du denn? — Georg. Er spielte weiter mit meinem weichen und auch verschreckten Penis in meiner kurzen Hose, und mir war vollkommen unklar, was sich zu seinem sicher nett gemeinten Getue sagen ließe. Von solchen Dingen hatte ich noch nie etwas gehört. Bloß nicht auffallen, dachte ich bei mir — und blieb ruhig. Über den Vorfall erzählte ich natürlich nichts, und weil Vaters Wohnung sowieso voller unausgesprochener Dinge war, fiel es gar nicht auf, wie verschreckt ich angekommen war. Als ich ein anderes Mal einem neugierigen Straßenbahnschaffner erklären sollte, wieso ich zu meinem Vater fuhr, war ich auch etwas überfordert.

— Die Eltern sind also geschieden.

— Nein, sind sie nicht.

— Wieso wohnt dein Vater aber woanders?

— Er hat eben eine andere Frau.

Vor dem Wort» Scheidung «hatte ich eine Heidenangst. Offensichtlich auch meine Mutter, die nie von so etwas Schändlichem wie einer Scheidung gesprochen hatte. Als ob das pure Benennen dieser unbestreitbaren Tatsache so etwas wie eine gesellschaftliche Exkommunikation zur Folge hätte haben können. Nachdem mich meine Mutter mit gedämpfter Stimme irgendwann später aufgeklärt hatte, fragte ich erschrocken, ob meine vielen Tanten über diese Scheidung Bescheid wüßten. Zu diesem Zeitpunkt lag diese Lappalie schon etwa zehn Jahre zurück.

Wenn ich unterwegs zu meinem in einem geheimnisumwitterten Trennungszustand lebenden Vater war, wollte ich aus guten Gründen niemanden treffen. Ich fuhr für dreißig Heller quer durch die Stadt und zitterte vor Angst, irgendein Mitschüler könnte mich von außen erblicken oder sogar in den gleichen Wagen einsteigen und mich zur Rede stellen. Deswegen hatte ich immer etwas zu Lesen dabei, und ich las und las und las. Und wenn mich zufällig irgendein Idiot aus meiner Klasse ansprach, las ich weiter. Ich sagte ihm nur kurz, ich müsse etwas zu Ende lesen, und ließ ihn einfach neben mir stehen. An den Wochenenden war ich im Prinzip ganz gern allein. Das Gute bei meinem Vater war, daß dort im Grunde alle allein waren, jeder für sich — und wenn ich dort längere Zeit in Ruhe gelassen wurde, ging es mir nicht mal so schlecht. Ich konnte zum Beispiel ungestört alle Schubfächer und Schränke der Familie inspizieren.