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Aus den überaus ordentlich gefüllten Schränken der väterlichen Wohnung atmete es, wenn man sie öffnete, seltsam anders, als zu erwarten war. Aus den sauberen Krypten der toten Kleider quoll eine so strenge Luft, daß man erstarrte und einem zur Übelkeit keine Zeit blieb. Außerdem boten diese Gerüche auch einem erfahrenen Duftforscher interessante Neuigkeiten. Nicht einmal die frisch gewaschene Wäsche roch bei meinem Vater gut, natürlich auch nicht die chemisch gereinigten Mäntel, die noch im chemiefrischen Zustand versenkt worden waren. Nachdem ich einmal verschimmelte Mantelkragen entdeckt hatte, wünschte ich mir zum nächsten Geburtstag ein Mikroskop.

Von den nicht eßbaren Vorräten verschiedener Drogerieartikel oder dem kaum brauchbaren Handwerkszeug meines Vaters war nichts anderes als Muffigkeit zu erwarten. Dafür fand ich ausgerechnet in diesen Schubfächern nützliche Dinge wie dickliche Patronen aus Vaters Dienstpistole. Schießpulver konnten Skopka und ich immer gut gebrauchen.

Sonntags nach dem Mittagessen durfte ich nach Hause gehen. Der Moment, als sich die Tür hinter mir schloß, war herrlich — obwohl ich mich erst einmal nicht traute, ihn wirklich zu genießen. Ich atmete immer freier und tiefer ein, die neue, nicht klebrige Woche konnte langsam beginnen. Zu Hause erwarteten mich lächelnde, duftende Frauen, die oft viel zu viel erzählten statt zu wenig. Mein Vater hatte, wie schon mehrmals erwähnt, auch eine Frau an seiner Seite. Daß diese weiter oben im Text so konturlos, unauffällig und grau ausfiel, ist natürlich kein Zufall. Ich sollte diese Frau trotzdem etwas sorgfältiger beschreiben. Sie war fleißig, verrichtete alle Arbeiten still und geduldig, trotz der vielen sichtbaren Ergebnisse ihrer Hausarbeit machte sie allerdings nie den Eindruck, in Vaters und meiner Wirklichkeit hundertprozentig vorhanden zu sein. Ihre Seele beschwitzte die Atmosphäre vielleicht weniger als die meines Vaters, eventuell verpestete sie die Wohnung subtiler als er, sie — Vaters Frau — litt dabei aber sicher viel bewußter. Und sie trank kaum Alkohol. Ihr Leid wandte sich eher gegen sie, fraß sich nach innen, es zehrte an ihr und hielt sie schlank. Sie war steif, blond und sicher auch wegen ihrer inneren Starre dauernd erschöpft. Wenn sie sich zwischendurch rücklings auf ihr Sofa fallen ließ, die Arme nach oben nahm, also neben ihrem Kopf nach hinten legte, war ihr Brustkorb so flach wie der eines jungen Mannes. Ich beforschte sie in dieser für sie typischen Lage wieder und wieder. Von ihrem Busen sah ich meistens nur ihre leicht angedeuteten Brustwarzen. So etwas wie eine Brustwölbung verschwand in der Rückenlage vollständig. Sie wirkte in diesen Momenten vollkommen resigniert. Daß sie meinen Vater verachtete und aus dem Grund in meiner Gegenwart so beharrlich schwieg, begriff ich erst lange nach ihrem Krebstod. Bevor sie meinen Erzeuger geheiratet hatte, mußte ihr mein Vater versprechen, nicht mehr zu trinken. Auf diesem wackligen Versprechen ruhte dieses gewagte Ehe-Experiment erstaunlich lange. Und tatsächlich kann ich mich an keinen lauten Streit zwischen den beiden Eheleuten erinnern. Vielleicht sahen er und seine Schattengattin keinen Sinn darin, auf diese Weise ihre kostbare Energie zu verschwenden. Manchmal fiel dort stundenlang nicht einmal ein leises Wort. Auch ich war natürlich still und beschäftigte mich gern verbissen und bescheiden mit meiner Modelleisenbahn. Als Pubertierender kam ich später einmal mit einem auffälligen schwarzen Hut an. Der Hut hatte eine freche, vollkommen gerade Krempe. Mein Vater brüllte mich entsetzlich laut an — ich stand noch im Treppenhaus — und schickte mich postwendend nach Hause. Er ließ mich nicht einmal seine stinkende Gruft betreten und war fest davon überzeugt, mich damit bestraft zu haben. Ich verließ die Vorstadthölle und war — die inzwischen schon etwas rissigen Plattenbauten im Rücken — der glücklichste Wochenendmensch seit langem. Ich hatte zwei freie Tage vor mir und wußte, wie wenig für die nächste, egal wie unschuldige Provokation ausreichen würde.

Die Aufenthalte bei meinem Vater haben mich leider für Jahrzehnte geschädigt. Ich wurde dort viele Jahre lang an jedem Wochenende zu einem fast vollwertigen Mitglied dieser verschwitzten, mit der Klebeschichtproduktion beschäftigten Gemeinschaft und war in meiner partiellen Treue auch später nicht in der Lage, diese geheime Zugehörigkeit ganz abzustreifen. Gelernt ist gelernt, eingebrannt ist eingebrannt. Wochenenden sollten für mich daher etwas Lähmendes behalten, mein Leben lang. Aber auch in der Woche konnte ich mich in ganz anderen peinlichkeitsgetränkten Zusammenhängen wie eine klettende Laus fühlen — und ich erkannte mich als eine solche und vergaß nicht, woher ich meine Lausegefühle hatte. Da ich Vaters Beispiel in mir trug, glaubte ich sowieso, eine vollständige Reinigung und vor allem Schutz vor diesem Gefühl wäre unmöglich. Meine bland verlaufende Pubertät bescherte mir leider Gottes eine relativ fette Haut, und ich bekam in besonders heftigen Entwicklungsphasen das Gefühl, meine Umwelt tatsächlich mit schmierigen Säften und unhygienischen Dünsten zu verpesten. Daß mein Vater unterdessen weit hinter mich zurückgefallen war, tief in seinem alkoholisierten Schlamm feststeckte und keine Macht mehr über mich hatte, half mir bei meiner Befreiung nur bedingt.

als er die messerklinge aus seiner handfläche zog, blieb die wunde trocken

Ohne Mutters außergewöhnliche Schönheit wäre das Leben in unserer mißgestalteten Wohnung vollkommen anders verlaufen. Meine Mutter beeindruckte die unterschiedlichsten Menschen. Sie gewann sie schon in den ersten Sekunden ihres Erscheinens für sich — beglückte mit ihrer Lebendigkeit aber keineswegs nur Männer. Mutters wieherndes Lachen, ihre wärmenden Augen und ihre überwältigende Haarmenge fielen überall aus dem Rahmen; ihre Grazie beim Rauchen war sowieso unnachahmlich. Und weil sie in einer Literaturzeitschrift arbeitete, die sich in den sechziger Jahren zum geistigen Zentrum der tschechischen Intellektuellen entwickelt hatte, gehörten die triebstarken Männer, die dort ihre Schönheit brennen sahen, zu den besten Köpfen des Landes. Also den besten, die das Land vordergründig zu bieten hatte.

Dazu muß man wissen: Die Männer und Frauen der alten bürgerlichen Eliten gab es an der gesellschaftlichen Oberfläche praktisch nicht mehr — sie waren entweder emigriert, oder sie wurden mit einem klassenkämpferischen Ruck an den Rand gedrängt, um dort allmählich zermürbt zu werden. Nach 1948 wurden diese Menschen jedenfalls ausnahmslos durch seelische oder körperliche, garantiert grobschlächtige Fleischwölfe gejagt — in schwersten manuellen oder stark minderwertigen Berufen, in Arbeits- oder Vernichtungslagern. Wegen der unmenschlichen Bedingungen und der starken radioaktiven Belastung, vor der niemand geschützt wurde, kann man die Letztgenannten nicht anders nennen. Über den Toren einiger dieser Lager prangte zum Trost der Häftlinge die altbekannte, ins Tschechische übersetzte Losung» Arbeit macht frei«-»Praci ke svobode«,»Durch Arbeit zur Freiheit«.

Die Macher von Mutters Zeitschrift und die übrigen Erregten, die diese Zeitschrift mit ihren Artikeln belieferten, hatten erst einmal — das heißt bis zur russischen Invasion von 1968 — gut zu lachen. Und sie lachten viel, sie bewegten einiges mit, vieles schien eine Zeitlang tatsächlich aufwärtszugehen. Sogar die marode Wirtschaft machte den Eindruck, etwas stabiler in ihrem Schlamm zu stecken. Die Essays und Artikel der führenden Intellektuellen dieser Jahre hatten oft weniger mit Literatur und Kultur zu tun, statt dessen verstärkt mit Innenpolitik, und sie durften immer ehrlicher ausfallen. Folgerichtig gehörten ihre agilen Autoren zu den Vorbrütern der Prager Reformbewegung — womit der Großteil der privaten Besucher meiner Mutter dazu bestimmt war, sich später unter den neuen Abgestraften wiederzufinden.