Was das Nachdenken betrifft, fehlten mir also jegliche Vorbilder, jegliche Möglichkeiten der Nachahmung oder Reibung; es fehlte mir auch an Material. Ich forschte nach nichts, ich speicherte nichts — infolgedessen wußte ich fast gar nichts über mich. Als mich meine spätere Frau mit den einfachsten Gefühlsfragen konfrontierte und klare Antworten verlangte, empfand ich ihr Insistieren als einen gewagten Versuch, meinen Brustkorb bis zum Hals aufzubrechen, um anschließend an meinem Gehirn von unten zu zündeln.
Sehr früh in meiner Kindheit entdeckte ich den Zauber meines breiten Lächelns. Ich kann mich noch erinnern, in welcher Streßlage mir mein Trick zum ersten Mal gelang. Das Wohnzimmer war voller Menschen, eine breitgefächerte, mir gänzlich unbekannte Familie kam zu Besuch. Ich war winzig und mußte trotzdem frontal gegen diese unüberschaubare Seelenansammlung antreten, mich der Prüfung der doppelten Anzahl von Augen stellen. Viele Münder grinsten mich an, Nasenlöcher weiteten sich, die Luft war voller Lungendämpfe. Und jeder dieser Körper war dabei, den Raum immer weiter aufzuheizen, jedermann glühte wie eine 100-Watt-Birne. Ich entschied mich, breit zu lächeln. Ich kam, lächelte und gewann. Ich gewann trotz meiner tiefen Angst und war verblüfft, wie einfach es war. Alle Anwesenden waren von mir begeistert. Andere Kindergenossen konnten in solchen Situationen nur verkrampft grinsen, ich stellte dagegen ein naturidentisches Gesichtsprodukt her. Ich mußte nichts sagen, mein Lächeln sagte alles: Ich war ein glückliches Kind aus einer glücklichen Familie, und mir ging es gut. In meinem Leben lächelte ich auf diese Weise nach und nach Unmengen von Menschen an. Leider kam ich mir dabei, je bewußter ich es betrieb, immer mehr wie ein Trottel vor.
Was Depressionen sind, erlebte ich schon ziemlich früh. Ich war zehn oder zwölf. Aber auch Jahre später wußte ich noch nicht, was dieses Gefühl, das sich nicht mitteilen ließ, eigentlich war und wie es hieß. Traurigkeit war das nicht. Die Menge meiner Geheimnisse wucherte in mir kontinuierlich weiter. Als Kind hatte ich sowieso nicht viel Zeit zum Grübeln, ich spielte dauernd Fußball. Ich spielte jeden Tag Fußball, obwohl ich nicht besonders gut spielte und trotz des Dauertrainings kaum technische Fortschritte machte. Bei Tortreffern, die in der Regel den anderen geglückt waren, brüllte ich nie. Meine stumme Präsenz auf dem Feld war trotzdem hochgradig emotional. Schnelle Bewegung versetzte mich schon immer leicht in Trance, betäubte mich wie eine Droge.
Zu meiner Überlebensstrategie gehörte, daß ich keinen Fremdling in das Innere unseres Prager Wohnungslabyrinths hineinließ. Wenn ich überhaupt einen Besuch empfing, bestand er grundsätzlich nur aus einer oder zwei meiner Cousinen vom anderen Ende des Flurs. Wer von außerhalb kam, wurde so lange an der Tür aufgehalten und genervt, bis er wieder ging. Daß er die vielen seltsamen und so unterschiedlichen Namen an der Tür zu sehen bekam, war schon schlimm genug. Wenn ein solcher Störer vor der Türschwelle lange genug zermürbt wurde, kam er in der Regel nie wieder. Unsere Wohnung war hochgradig verunstaltet, sie war eine Mißgeburt voller Narben und häßlicher Kompromisse. Leider war kein einziges Familienmitglied in der Lage, das zu erkennen. Auch die schlimmsten Geschmacksverbrechen wurden einfach ignoriert. - Häßlich? Wieso häßlich? So etwas ist doch nie häßlich.
Den meisten Erwachsenen fehlte aber nicht nur jeglicher Sinn für Ästhetik. Wegen der vielen divergierenden Wünsche und Bedürfnisse, die es in unserer Zwangsgemeinschaft gab, wurde die aktuelle und oft nur lächerliche Funktionalität der Einrichtung über alle Maßen idealisiert, so daß der Wille, auch geringfügigen Änderungen zuzustimmen, grundsätzlich gegen null tendierte. Mein Grauen war nicht das Grauen meiner Damen, verzweifelt waren wir aber trotzdem alle. Manche Tanten retteten sich in Putz- und Wischzwang ihrer vertrauten Teilbereiche, ein solches Ventil hatte ich nicht. Die meisten Familienmitglieder waren genügsam und freuten sich einfach, den Krieg überlebt zu haben. Über ihren fehlenden Verschönerungswillen mußte man allerdings eher froh sein.
Unsere Wohnung war voll von dunklen Möbelstücken reicher und 1945 nach Österreich geflohener Deutscher. Diese Einrichtung war zwar nicht nur häßlich — vor allem im Zimmer meiner Mutter gab es einige originelle Prachtexemplare — , alle verrückbaren Einzelteile der Einrichtung waren aber trotzdem gefühllos, nur nach fragwürdig praktischen Gesichtspunkten zusammengestellt; das heißt — zusammengeschoben, aufeinandergetürmt oder ineinander verkeilt. Die klobigsten, unmöglichsten Monster standen meiner Meinung nach in meinem Zimmer, und die Atmosphäre, die sie ausstrahlten, hätte vielleicht einer verarmten Witwe entsprochen, nicht mir. Jedes einzelne Stück, das die Großfamilie besaß, schien uns allen überaus kostbar; und irgendwann leuchtete es auch mir ein, daß ich mich von bestimmten Dingen nie im Leben würde trennen dürfen. Mit einigen besonderen, besonders gut riechenden Möbelstücken freundete ich mich mit der Zeit trotz allem an. Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter.
In unserem Teil der Wohnung änderte sich jahrzehntelang nur wenig; und wenn, dann geschah es zu seinem Nachteil. Meistens bekamen wir nach einer Wohnungsauflösung — auch als Erinnerung an den Toten, den wir persönlich gekannt hatten — irgendein dunkles, zu unserer Einrichtung nicht passendes Einzelstück geschenkt. Aber auch neue helle Möbel aus modernen sozialistischen Möbelbetrieben wären für die Melange in unserer Behausung eine Katastrophe gewesen. Für solche Neuanschaffungen hatten wir zum Glück nie genug Geld. Tagsüber hielten sich diejenigen, die sich vertrugen, gern in dem gemütlichen Zimmer meiner arbeitenden Mutter auf. Mein Zimmer verkam schon sehr früh zu einem reinen Schlafzimmer, zu einer Kleider-, Wäsche- und Vorratskammer. Vorräte hielten sich in diesem sonnenfreien Nordzimmer neben dem Treppenhaus sehr gut, weil wir dort praktisch nie heizten.
In der Wohnung gab es nicht nur zu viel Häßliches, das ich vor Außenstehenden verborgen halten mußte, es gab dort vor allem Dinge, die ausgesprochen häßliche Fragen aufwerfen konnten. Und man traf dort Frauen, die seltsame Dinge erzählten — wohlgemerkt mit einem ausländischen Akzent; eine von ihnen machte dabei sogar grobe grammatikalische Fehler. Außerdem stritten sich diese Personen untereinander oft auf Deutsch oder Ungarisch. Dank meines Isolationismus dachte ich in meiner Kindheit eine ganze Weile, die meisten älteren Frauen mit weißen Haaren würden das Tschechische aus Altersschwäche nicht beherrschen.
Nicht alle diese wunderlichen Menschen, die sich bei uns tagsüber aufhielten, wohnten auch tatsächlich da. Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater. Klein und dick, wie er war, war er zwar kein Ausstellungsstück, sein Auslagerungszustand war aber definitiv und wäre schwer zu bestreiten gewesen. In Mutters Zimmer befanden sich viele unterschiedliche Polstersessel, es stand dort aber nie ein Doppelbett. In meinem Zimmer schlief mein Vater auch nicht, dafür schlief dort meine Hauptgroßmutter Lizzy. Daß in meinem» Kinderzimmer «zwei Betten standen, war — jetzt schüttelt es mich wieder — im Grunde noch geheimer als das Getrenntsein meiner Eltern.
Aus Sehnsucht nach weiblichen Wesen, die sich kraft ihres Amtes um einen bemühen mußten, ging ich gern in diejenigen Geschäfte, die von warmblütigen Frauen dominiert wurden. Abscheulich fand ich dagegen solche, in denen ein unbarmherziges männliches Kommandoregime eingeführt worden war. Zum Glück gab es solche Läden damals kaum. Kühlgeschäftige und meist von Männern befehligte Selbstbedienungsläden tauchten in unserer Nähe erst sehr spät auf. Ich bin sowieso in einer Entwicklungsphase des Sozialismus groß geworden, in der sich relativ viele Menschen feuerbeständige Illusionen über ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven machen konnten. Deshalb war die Stimmung vielerorts im Lande zwar nicht die allerbeste, sie war im allgemeinen aber zufriedenstellend und definitiv um viele Qualitätsgrade besser, als es später nach dem Einmarsch der Russen der Fall war. In Zeiten meiner Kindheit und Jugend gab es außerhalb unserer Wohnung also — ich bin bis heute glücklich darüber — noch wirkliche Inseln des Glücks und des Optimismus. Eine davon war ein Stoffladen, ein Ort voller gepflegter, duftender Damen und unterschwelliger Erotik. Und natürlich auch voller überwiegend häßlicher Stoffe, die man in einem solchen Laden irgendwann auch kaufen mußte, wenn man sich dort länger aufhalten wollte.