Zum Glück war das Zimmer meiner Mutter noch das schönste in der ganzen Wohnung, und alle die Philosophen, Literaturkritiker, Schriftsteller, Journalisten und Politologen, die um meine Mutter in den frühen Jahren warben oder sie einfach gern besuchten, mußten im Flur nur eine relativ kurze Strecke überwinden. Der übrige Teil des Flurs lag hinter einem meist halboffenen Vorhang. Bevor die Besucher in Mutters Reich eintauchten, bekamen sie noch einen weiteren geblümten Vorhang zu sehen, mehr aber nicht. Leider roch es im Flur wegen der divergierenden Kochdünste nie besonders gut. Die Luft wurde dort außerdem von einem riesigen, mit einer Gasflamme betriebenen Kühlschrank verpestet.
An Mutters Tisch saßen oft mehrere männliche Prachtexemplare, und alle wirkten in der Regel entspannt. Natürlich versuchten sie, sich bei den geistreichen und meist politischen Diskussionen nach Möglichkeit gegenseitig zu übertrumpfen. Sie alle waren eher» zufällig «vorbeigekommen,»hatten gerade in der Nähe zu tun gehabt«. Mindestens einer von ihnen brachte eine Flasche Wein mit. Die Männer scherzten auch mit mir, wenn ich mich zeigte oder von meiner Mutter gerufen wurde, und ich kannte diese Leute meist nur ihren unscheinbaren Vornamen nach. Die gesellschaftliche Bedeutung aller dieser Männer wurde mir erst klar, als sie im achtundsechziger Frühling auf großen Fotos in den Zeitungen auftauchten, um dorthin später als Feinde wieder zurückzukehren — in Überschriften von wütenden Artikeln, auf viel kleineren Fotos oder ganz ohne Bild. Als einer von ihnen — einige Jahre nach dem Einmarsch — wieder mal groß abgebildet wurde, war er vollkommen nackt. Auf dem bei ihm während einer Hausdurchsuchung gefundenen Foto lag er mit seiner aktuellen Geliebten auf einer Grabplatte. Die Bildunterschrift lautete: MEIN KAMPF FÜR DIE MENSCHENRECHTE.
Mutters fester Liebhaber konnte selbstverständlich nur einer werden — und einer wurde es dann natürlich auch. Mein Vater war bei uns normalerweise nicht einmal als Phantom vorhanden — er störte also niemanden. Genau das gleiche galt für meinen Onkel. Der neue Partner meiner Mutter kannte sich in der Wohnung bald bestens aus und durchquerte unseren Flur still, man mußte seine Präsenz nicht unbedingt bemerkt haben. Da sich unsere Wohnung wegen der vielschichtigen Überbelegung nie ganz leerte, wurde die Eingangstür von außen mit einem drehbaren Knauf versehen und am Tag nicht abgeschlossen. Außerdem hatte meistens jemand sowieso seinen Schlüssel steckenlassen. Die Türklingel (lx, 2x, 3x, 4x, 5x oder 6x klingeln) war aus zwei praktischen Gründen stillgelegt worden. Einerseits wollten die Kriegsphobiker unter uns nicht dauernd in Alarmzustände versetzt werden, andererseits war es sowieso nicht möglich, die einzelnen Röchelanfälle der alten Klingel wirklich zu zählen. Der Liebhaber meiner Mutter machte also eigenständig die Tür auf, übersah mich in dem oft unbeleuchteten Flur, und sein zielstrebiger Antritt hinterließ schließlich nur eine vorübergehende, trotzdem intensive Luftdruckwelle. Der eine geblümte Vorhang bekam davon auch etwas ab und wallte eine Weile.
Wenn Erwin oder der depressive Oskar zu meiner Mutter kamen, wurde lange und ernsthaft diskutiert und kaum getrunken, wenn Ladislav kam, wurde viel herumgeblödelt und gelacht, Franta hielt allen lange Vorträge, und auf gezielte Nachfragen reagierte er so, daß er der Fragestellerin bewies — also meiner Mutter, oft waren aber auch ONKELS Frau Eva oder meine Großmutter Lizzy dabei — , wie widersinnig ihre Fragen gewesen waren. Als Twist aufkam, brachte uns Otomar diese Tanztechnik mit Hilfe eines Handtuchs bei, das er sich beim Tanzen am Rücken hin und her rieb. Diese Männer waren auch die ersten, die unsere Wohnung mit Platten der Beatles beehrten — sich beim Zuhören allerdings sehr wunderten, wieso sich in England auch seriöse Gentlemen um die Konzertkarten prügelten.
Einer von Mutters Bewunderern — speziell von Mutters Lachen — war Klaudius, ein blinder marxistischer Philosoph, der später nach dem Einmarsch der Russen einer der schillerndsten Dissidenten werden sollte. Klaudius bewarb sich um meine Mutter irgendwann in den frühen fünfziger Jahren. Seine Beliebtheit bei den Frauen wurde mit der Zeit so überwältigend, daß er jedesmal mit einer anderen Freundin ankam. Alle seine Geliebten waren erstaunlich hübsch.
— Wie machst du das, Klädo, daß du immer so schöne Bräute findest? fragte ihn meine Mutter einmal, als seine Freundin pinkeln gegangen war.
— Bei mir geht es immer ganz schnell. Ich kann sie doch nicht sehen, muß sie gleich anfassen — das Gesicht, den Busen…
Klaudius war in der Stadt oft auch allein unterwegs, lief lange Strecken einfach zu Fuß — ohne Stock. Er fragte auch nicht gern nach dem Weg, bat normalerweise nie um Hilfe. Prag sei doch nicht besonders groß, meinte er.
— Wie das in meinem Gehirn funktioniert, weiß ich nicht, ich merke mir eben alles. Inzwischen kenne ich jede Bordsteinkante, ich weiß, wo welche Mülltonnen stehen.
— Und wenn sie woanders stehen?
— Meistens spüre ich das — und einiges renne ich einfach um. Früher gab es zum Glück nicht so viele Baustellen wie jetzt. In mir ist so viel Kraft, das glaubt ihr nicht!
Klaudius war tatsächlich ein bärenhafter Kerl, den Laternenmasten zwar kurz stoppen, ihm aber niemals Furcht einjagen konnten. Einmal sah ich ihn in unserer Gegend allein marschieren und schloß mich ihm heimlich an. Auffällig an seiner Erscheinung waren im Grunde nur seine dunklen Brillengläser. Ansonsten lief er nicht langsamer als andere. Nur vor Stellen, wo der Bürgersteig zu enden drohte, oder vor Hindernissen, denen er zu nahe kam, verlangsamte er unmerklich und schnalzte. Auf meinem Weg nach Hause verfolgte ich ihn eine Weile. Irgendwann sagte er:
— Bist du das? Ich bin gerade unterwegs zu deiner Mutter. Er streichelte mich am Kopf, genau oberhalb meiner piepsigen Stimme — und half mir damit aus der Verlegenheit.
— Woran hast du mich erkannt?
— Im Moment läuft hier sonst niemand, der mich kennt — und in dieser Richtung… das konntest nur du sein. Außerdem hast du einiges von deiner Mutter geerbt. Darf ich dein Gesicht anfassen? Warte! Mach die Augen zu, ich werde dich bis zur Haustür führen.
Ich gab ihm meine Hand, im Gesicht spürte ich noch seine ungewöhnlichen Griffe. Er faßte alles, auch unbelebte Dinge, vollkommen anders an als man selbst. Die Haltung seiner Finger war eine andere, seine Handflächen waren bei den Berührungen ebenfalls voll im Einsatz. Er versuchte, soviel Oberfläche, soviel an Struktur zu fassen zu bekommen wie nur möglich.
— Hast du keinen Blindenstock?
— Der störte mich nur, ich muß beide Hände frei haben. Hörst du die Autos auf der Straße? Es ist eine Einbahnstraße — also schon die Mickiewicz. Und links hört man die Wand, versuche darauf zu achten, wie sich die Mauer anhört — und die Nischen der Hauseingänge. So lese ich die Hausnummern ab, diese Straßenseite endet mit der Nummer fünfzehn.
— Als ich noch kleiner war, versuchte ich auch manchmal mit geschlossenen Augen zu laufen, wie ein Blinder eben, sagte ich.
— Das funktioniert aber nicht, wenn man zwei gesunde Augen hat, nicht wahr? Paß auf, wir gehen jetzt auf den anderen Bürgersteig, ich mag die Gärten mit den gußeisernen Zäunen, die Apfelbäume müßten schon blühen. Und wenn wir in der Höhe der dreizehn sind, sagst du mir Bescheid — wir begrüßen dort die Büste von Frau Garrigue Masaryk, winken ihr einfach über die Fahrbahn zu.
— Woher kommt dieses komische Garrigue? Sie war doch Amerikanerin.
— Aus Brooklyn, richtig. Ihr Vater kam aber aus Dänemark, den Namen hatte er allerdings von seinen hugenottischen Vorfahren. Meine Freunde lesen mir dauernd vor, alles mögliche, weißt du. Ich könnte dir darüber noch mehr erzählen. Die Büste ist wirklich ein Unikum, vielleicht ist es der einzige Ort im Land, an dem der Name Masaryk in aller Öffentlichkeit noch zu sehen ist. Aber jede Ecke von Prag hat etwas Besonderes — und einen eigenen Klang, du kannst versuchen, darauf zu achten. Mein Lieblingsfach ist Geographie, weißt du das? Ich sammle Stadtpläne und Landkarten, beschäftige mich besonders mit Afrika, Asien und Südamerika, Europa kenne ich schon gut genug. Außerdem sammle ich Inseln.