— Wie das?
— Ich will nach und nach alle Inseln der Erde kennen, und ich kenne sie fast alle, auch die ganz kleinen — und nicht nur dem Namen nach. Ich merke mir gleich ihre Fläche, alle Flüsse, den jeweiligen höchsten Berg, wie viele Menschen dort leben und so weiter. Weiß du, wann die hiesige Befestigung gebaut wurde, das barocke Tor?
— Nein.
— 1721. Aber daß euer Haus 1912 gebaut wurde, weißt du bestimmt. Vor einigen Jahren, bevor der Putz abfiel, war die Jahreszahl noch zu sehen.
Wir gingen eine Weile schweigend, bis er meine Hand etwas fester drückte.
— Der Zaun wird bald zu Ende sein, den offenen Raum dahinter kann man hören. Und wenn eine Querstraße abgeht, ist nach zwei, drei Schritten der Bürgersteig zu Ende. Du hast zu früh gebremst — hast geblinzelt, nicht wahr? Vor dieser Kante müssen wir keine Angst haben, wir müssen doch nach rechts.
Manche der Bewunderer meiner Mutter kamen öfter als die anderen, andere kamen plötzlich gar nicht mehr — grüßten uns bei Zufallsbegegnungen nicht wirklich herzlich. Und wenn sie mit ihren Gattinnen unterwegs waren, grüßten sie vorsichtshalber gar nicht. Manche sahen dabei furchtbar traurig aus. Wenn ich an diese Eindrücke denke, wird mir klar, daß ich so etwas wie gemeinsam auftretende, also funktionierende Ehepaare praktisch nicht kannte. Prag war für mich voller männlicher Einzelkämpfer. Außerdem voll von ihren mit dem gemeinsamen Haushalt beschäftigten Ehefrauen, über deren Leben ich allerdings nur wenig erfuhr. Als ich klein war, durfte ich den Männern noch bestimmte Fragen stellen.
— Hast du eine Frau?
— Zu Hause habe ich eine, ja.
Bei den größeren Zusammenkünften waren allerdings auch Frauen dabei, das waren aber ganz besondere Erscheinungen. Die meisten von ihnen schrieben, kritisierten oder philosophierten auch — dabei versuchten sie aufgrund ihrer guten Erziehung aber nie, ihre männlichen Kollegen in Bedrängnis zu bringen. Meine Mutter war unter den Damen die unumstrittene Nummer eins, jedenfalls die Attraktivste von allen. Sie wußte es und nutzte ihren Charme, wo es nur ging. Als Intellektuelle litt sie dafür oft unter abgründigen Minderwertigkeitskomplexen.
— Ist er aber schön, sagten die Damen gern in meine Richtung, wenn sie mich im Flur trafen. Oder:
— Ich wußte, daß er schön ist, daß er aber so schön ist, ahnte ich nicht.
Diese Sprüche nährten einerseits meine Visionen, die meine zukünftige Frau betrafen, andererseits fühlte ich mich unter der Gesichtsoberfläche oft, ähnlich wie meine Mutter — intellektuell nicht ausreichend ausgestattet, ungenügend gebildet und rhetorisch sowieso ein Zwerg. Meine Mutter war einige Zeit mit dem schönen, allerdings auch etwas kleinen Ladislav zusammen. Der selbstverständlich verheiratete Ladislav trug auf seinem großen Schädel eine wuchtige, nach hinten gekämmte Mähne, er und meine Mutter paßten ganz gut zusammen. Draußen liefen sie oft sogar eingehakt herum, so daß ich von Mitschülern erfreuliche Rückmeldungen bekam.
— Ich habe gestern deine Mutter mit deinem Vater gesehen.
Für Sekunden konnte ich mich über eine solche Rückmeldung freuen und versuchte außerdem, auf meine mögliche Ähnlichkeit mit dem schönen Ladislav stolz zu sein. Später war Otomar, der Twisttänzer und Filmkritiker, an der Reihe, für ihn interessierte sich allerdings auch eine von Mutters engsten Freundinnen. Ich erlebte einen Spaziergang dieses Dreiergespanns mit. Otomar — Otek genannt — war an dem Tag eher schweigsam, meine Mutter und ihre Freundin boten dafür alles, was man zum gegenseitigen Überbieten so braucht — sie redeten, lachten, lächelten, stichelten, sahen dauernd zum schweigenden Otek herüber, sahen sich auch gegenseitig prüfend bis böse in die Augen und versuchten vergeblich, Otomar zu einer verstärkten Hinwendung nach links oder rechts zu animieren. Mutters Freundin schlaffte irgendwann ab, ihre geistigen Reserven und ihre Schönheit reichten für diesen Kampf nicht aus. Meine Mutter gewann. Über die Hintergründe dieses Kampfes berichtete mir meine Mutter erst Jahre später, kurz nachdem ihre ehemalige Rivalin emigriert war. Der über den Dingen stehende Otomar hatte — erzählte mir bei dieser Gelegenheit meine Mutter — von dem damaligen Kampf um seine Seele angeblich nichts mitbekommen, wartete offenbar nur das Ergebnis ab.
— Die Frau wählt den Mann, prägte mir meine Mutter bei ihren Schulungen fürs Leben ein.
Von der Notwendigkeit der Ausbildung in Liebesdingen war sie so fest überzeugt, daß ich mir manche Weisheiten immer wieder anhören mußte:
— Die Frau muß aber trotz allem immer so tun, als ob sie gewählt worden wäre.
Wer damals etwas auf sich hielt, war ein Reformer. Und dank der marxistisch-leninistischen Flurbereinigung der fünfziger Jahre war unser Land tatsächlich zu einer reformbedürftigen, aber auch reformresistenten Problemzone geworden. Als in den sechziger Jahren der politische Druck gelockert wurde, war denjenigen, die sich noch als ein Teil des Systems empfanden, erlaubt, über den Zustand der Gesellschaft öffentlich nachzudenken und Mißstände zu kritisieren. Wer sich an die Regeln hielt und sich mit der Vorab-Zensur abfand, dem geschah auch nichts. Die besonders ungeduldigen Intellektuellen dieser Jahre lieferten aber immer frechere Analysen der Schieflage, die Zensur ließ immer mehr zu — und die mutigen und auch die weniger mutigen Köpfe begannen auf diese Weise an den Grundfesten des Systems zu rütteln. Perspektivisch rüttelten sie alle gemeinsam auch an ihrer eigenen Existenzgrundlage. Die Ideologie war längst verrottet, und mit den Ketzereien steckten sich allmählich auch viele der früher so eisernen Machtkader an. Man korrigierte immer unverschämter alte Dogmen und leuchtete dabei voller Hoffnung. Den gefragten Zeitschriften bewilligte man unterdessen immer größere Papierkontingente. Das Volk wurde dadurch allerdings nicht besänftigt, es wurde eher begieriger und hatte immer weniger Angst. Am Ende waren die alten Machtstrukturen — samt allen Sicherheitsdiensten — so gefährlich aufgeweicht, daß die Rettung des Ganzen nur noch durch auswärtige Armeen bewältigt werden konnte. Es kam, wie es kommen mußte.
Der Freundeskreis, zu dem meine Mutter gehörte, driftete in der Zeit der 68er Frühlings- und Sommermonate auseinander — alle waren ungeheuer beschäftigt und hatten füreinander kaum Zeit. Nach dem russischen Überfall und der politischen Implosion rückte man wieder näher zusammen, und alles war fast wie früher. Nur personell wurde das Land gründlich umgekrempelt. Alle Redaktionen, Verlage, Universitäten und Institute hatte man von konterrevolutionären Elementen gereinigt, und die meisten Philosophen, Kritiker, Journalisten und Schriftsteller wurden wegen der streng einzuhaltenden Arbeitspflicht über Nacht Proletarier — sie putzten Fenster, heizten veraltete Dampfkessel, wurden Nachtwächter, Handlanger, Straßenkehrer. Die Treffen des Freundeskreises, der inzwischen keine gemütlichen Redaktionsräume mehr hatte, wurden in unterschiedlichen Wohnungen abgehalten, um das Risiko zu verteilen — und alle paar Wochen saß man bei meiner Mutter. Die Neuproletarier lachten wieder, sie lachten fast genausoviel wie früher und ähnlich proletarisch wie früher.Einige von Mutters Bewunderern waren Russen — Söhne von Flüchtlingen, die nach der Oktoberrevolution in die antibolschewistische Tschechoslowakei gekommen waren und zwanzig Jahre später dann — vor den Nazis — nicht unbedingt zu flüchten brauchten. Diese begabten slawischen Brüder agierten und benahmen sich zwar längst genauso tschechisch wie alle anderen, sie waren aber trotzdem anders. Ausladender, lauter, intensiver. Ihr Hinterland war immer noch die weite Steppe ihrer Vorfahren — und sie alle tranken lieber Wodka als mährische Weine. Die Wodkaflaschen, die sie mitbrachten, öffneten sie mühelos mit einem kräftigen, von unten geführten Schlag gegen den Flaschenboden. Der eine von ihnen schleuderte manchmal mit der gleichen Wucht seine Gläser in eine bestimmte Zimmerecke. Ansonsten blieben die meisten von Mutters Freunden in den schweren Zeiten nach dem Einmarsch sehr tapfer, sie klagten manchmal nur über die alltägliche körperliche Erschöpfung.