— Wie soll ich den zweiten und dritten Teil zu Ende schreiben? Ich falle abends um neun mit dem Kopf auf die Schreibmaschine und habe dann die halbe Tastatur als Abdruck im Gesicht.
Nur wenige von diesen Leuten verlegten sich in dieser Zeit aufs Trinken. Der Gläserwerfer war allerdings schon lange gefährdet gewesen. In der Zeit, als er nur in Maßen trank, schrieb er wunderbare Tiergeschichten für Kinder und Jugendliche, auf die man ihn allerdings nie ansprechen durfte. Wenn er stark angetrunken war, schon gar nicht.
— Laß mich bitte in Ruhe mit meinem Schrott!
Als er einmal kam, um einige Ersatzgläser vorbeizubringen, fragte ihn meine mitfühlende Mutter unvorsichtig:
— Wie geht es dir, Jossip?
— Schlecht, sehr schlecht. So schlecht, wie es mir jetzt geht, ging es mir noch nie in meinem Leben.
Kurz danach schob er ein Brett, auf dem ein Laib Brot lag.näher zu sich, griff sich ein scharfes Messer und hielt es verkehrt herum — mit der Spitze nach unten.
— Ich zeige euch, wie schlecht es mir geht. Aber keine Angst, ich werde nicht bluten. Nachdem meine Mutter das Brot an sich gerissen hatte, durchstach Jossip seine linke Hand. Zum Beweis hob er den Unterarm an — und die Holzunterlage kam mit.
— Auch wenn ich mein breites Jagdmesser mit den Rillen genommen hätte, hätte ich nicht geblutet. Wenn ich nicht will, kommt kein Tropfen aus mir.
Und tatsächlich: Als er das Messer aus seiner Hand zog, blieb die Wunde trocken.
— Wenn ich bei der Jagd verletzte Tiere töten muß, sieht es etwas anders aus.
Er wickelte sich ein nicht besonders sauberes Taschentuch um seine Faust, tröpfelte etwas Wodka drauf, nahm sich vom Tisch noch eine Serviette und verließ die Wohnung.
Dana, meine zukünftige Geliebte, war Bildhauerin, hatte mit Politik nicht viel zu schaffen, trotzdem wurde auch sie eines Tages beruflich kaltgestellt. Da sie sich nicht anpassen wollte, schloß man sie aus dem Künstlerverband aus. Daraufhin fand sie für sich eine praktikable Lösung — sie zog aufs Land, wo sie von einem Gemüse- und Obstgarten, außerdem von zwei kleinen Feldern auf Niemandsland leben wollte. Ihr Geld verdiente Dana mit diversen ihr zugespielten Auftragsarbeiten. Meistens tauchte ihr Name dabei nirgends auf. Manchmal kassierte das Geld sogar jemand anders für sie und gab es ihr in bar.
— Das Land kann es sich leisten, auf seine begabten Leute alle zwanzig Jahre zu verzichten, sagte sie einmal, meinte aber nicht sich selbst.
— Ich kann an meinen Sachen zum Glück weiterarbeiten. Ich muß nicht Fenster putzen, muß keine U-Bahn bauen oder in einem Heizungskeller wie ein Bratapfel schmoren.Die Zersetzung der kommunistischen Seele meiner Mutter begann schon früh. Wieder in erster Linie dank ihrer Bewunderer, zu denen auch einige Ärzte mit deutsch klingenden Namen gehörten — anderen vertraute meine Mutter sowieso nicht. Nachdem sich Väterchen Stalin vorgenommen hatte, die kosmopolitische Ärzteverschwörung aufzudecken und dieses Problem zu lösen, schrie einer dieser Ärzte voller Panik:
— Lüge, Lüge, alles gelogen!!!
Da war ich aber noch zu klein, um seine Angst zu verstehen. Das war einige Jahre später schon etwas anders, und diesem Vorfall verdanke ich die erste klare Erinnerung an ein politisches Ereignis. Meine ansonsten immer — auch morgens — gepflegt zurechtgemachte Mutter lief mit weitaufgerissenen Augen und wirren Haaren unseren langen Flur entlang und schrie:
— Die Russen sind in Ungarn, die Russen, die Russen… Sie fahren mit Panzern gegen die Leute… in den Kellereingängen liegen Berge von Leichen. Klaras Schwester kann die Tür nicht öffnen.
— Was, wieso?
— Die Russen haben in Ungarn interveniert.
— Und? fragte ich.
— Sie sind in Budapest einmarschiert.
— Die Russen sind doch überall.
— Stimmt nicht. Bei uns sind sie nicht.
Hinten in der Wohnung wurde Tante Bombe aufgeschreckt und rief mit schläfriger Stimme:
— Die Rote Armee wird den Ärmsten schon helfen.
der gitarrist wurde von saftigen Stromstößen gekrümmt
Die Schwanzgröße spielte in der Grundschule noch keine besondere Rolle. Unsere Schwänze waren dort höchstens als kleine dunkle Flecke an unseren kurzen Trainingshosen präsent, dafür aber regelmäßig. Egal, wie lange man nach dem Pinkeln auch die letzten Tropfen aus der Harnröhre auszutreiben versucht hatte, beim Sportunterricht hatte trotzdem jeder Zweite oder Dritte einen nassen Fleck sitzen — frontal und bestens sichtbar. Diese roten Trainingshosen waren aus reiner Baumwolle, und deren fest gewebter Stoff wurde durch Feuchtigkeit nicht nur ein kleines bißchen dunkler, sondern fast schwarz. Und eine zweite Stoffschicht, die die Reste der Feuchtigkeit aus dem Inneren der Pißröhre hätte aufnehmen können, besaßen sie nicht. Und weil das Warensortiment damals so schmal war, im Sportunterricht praktisch alle das gleiche anziehen mußten, litten jedesmal alle Jungs wie ein Mann, auch diejenigen, die gerade mal unbefleckt waren.
Man konnte sich mit den Schandflecken unserer Schamgegend aber auch ganz anders beschäftigen. Bei mir zeigte sich hier bereits meine zukünftige Begeisterung für die Physik, und ich dachte beim Sportunterricht oft darüber nach, was die Flüssigkeiten dazu bringe, sich mit aller Macht und so rücksichtslos auszubreiten. Termini wie» kapillare Elevation «kannte ich damals noch nicht, daß die Flüssigkeitsmoleküle in der Lage sind, einen zur Verzweiflung zu bringen, war dank des Sportunterrichts aber auch den schlimmsten Lernignoranten unter uns vertraut. Den Mädchen, nehme ich an, erzählten unsere dunklen Schandmale in erster Linie von der Penetranz unserer in uns lauernden Flüssigkeiten,weniger von der Gemeinheit und Primitivität unserer Bekleidung. Das weitere Problem unserer quasi Uniformhose war ihr bequemer Standardschnitt, der uns beim Turnen alle nur denkbaren Bewegungen ermöglichen sollte. Wegen der breiten Öffnungen für die Schenkel hatten wir im Schritt so viel Freiraum, daß wir beim Sitzen — wenn wir nicht aufgepaßt hatten — den wißbegierigen Mädchen unsere hervorquellenden Hodensäcke preisgaben, eineiig oder zweieiig, manchmal rutschte einem einfach alles heraus. Hier wäre uns eine anschmiegsame zweite Innenschicht, die alle unsere Einzelteile zusammengehalten hätte, ebenfalls willkommen gewesen.
Zum Glück spielte bei den rangbestimmenden Kämpfen in der Grundschule nicht nur die Größe unserer Schwänze keine Rolle, auch die Größe unserer Eier war unerheblich. Das einzige, was zählte, war die reine Muskelkraft — außerdem die Schnelligkeit beim Ansetzen des Schwitzkastens und die Perfektion, mit der man die Umklammerung auf Dauer aufrechterhalten konnte. Bei den immer wieder ausbrechenden Ringkämpfen mußte man den wütenden Gegner einfach so fest packen, daß er von alleine nicht wieder freikam — dabei mußte man einerseits gnadenlos, andererseits umsichtig und geduldig sein. In meiner zähen Person fügten sich alle für solche Kämpfe nötigen Fertigkeiten so gut zusammen, daß ich mich bis zur fünften Klasse nie als der untenliegende, zappelnde und röchelnde Würgling ergeben mußte. Neben meiner körperlichen Überlegenheit spielte sicher auch die innere Kraft eine Rolle, die mir meine vielen Frauen auf den Weg gegeben hatten — eben die Überzeugung, daß ich der Beste und Stärkste von allen war. Faustkämpfe gab es in der Grundschule kaum — und wenn sie ausnahmsweise stattfanden, wurden sie zwar als eine höhere Kampfform respektiert, gleichzeitig aber mit Ekel angesehen. Sie markierten eher einen Regelbruch.