Als ein aufgeregter Haufen hatten wir miteinander unglaublich viel durchzuhecheln — jeden Tag, wochenlang, monatelang, pausenlos bis zu den nächsten Ferien. Und wir lernten dabei jeden Tag etwas hinzu, so daß ich heute keine Minute dieser Jahre als eine verlorene Zeit betrachten kann. Wir lästerten und urteilten gnadenlos, wir übten uns in Frechheiten jeder Art, außerdem in Ironie und auch darin, Kränkungen möglichst mit tapferer Miene zu überstehen. Wenn es während kurzzeitiger Wutanfälle sein mußte, bewarfen wir uns behutsam mit Pflastersteinen. Wir waren unverwundbar, schamlos und von Erwachsenen schwer zur Vernunft zu bringen. Vor uns lag eine wilde Zukunft voller Freiheit — außerdem voller wegweisender Brustwarzen, entblößter Schamhaare und nackter Haut. Wir waren dazu bestimmt, mit allen Ejakulatwassern gewaschen und allen Scheidensekreten geschmiert zu werden.
Bei den ersten Rockkonzerten gingen dann die nächsten Dämme zu Bruch. Die für uns damals ungewohnt schädelbrechende Soundstärke ging mit uns durch, wir betraten Energiebereiche, deren Existenz wir allerdings längst schon gewittert hatten. Schon nach den ersten metallischen Akkorden der Gitarren und wenigen Schlagzeugschlägen verloren wir die Besinnung, und die Mutigsten von uns warfen sich gleich, nicht erst nach einer Schamfrist, vor die Füße der Musiker. Das Besondere an dem Saal im Elektropalast war, daß die Bands in gleicher Höhe, also vor uns auf dem Parkettboden spielten. Für die Musiker war vieles auch noch neu. Man sah manchen an, wie sie über das von ihnen ausgelöste pathologische Treiben auf dem dreckigen Fußboden staunten. Aber man steckte sich gegenseitig an. Auch die bedächtigeren unter den Spielern waren bald außer sich und vergaßen alle strombedingten und sonstigen Gefahren. Ich behielt immer noch etwas Kontrolle über mich und registrierte, ab wann es der stark adrenalisierten Band an die Substanz ging. Die Musiker spürten irgendwann — wie nach einer Betäubungsspritze — keinen Schmerz mehr. Nach einer Spritze vom Zahnarzt kann man sich von innen die halbe Mundhöhle kaputtbeißen, bei den Musikern waren vor allem ihre Finger in Gefahr. Die durch die Stahlsaiten zerfetzte Haut ihrer Zeige- oder Mittelfinger färbte sich mit steigernder Ekstase langsam rot, warf Blutstropfen ab, und ich hätte sie abschlürfen können, wenn ich gewollt hätte. Ihre Plektren — immer wieder Mangelware — waren nach einer Weile alle kaputt oder auf dem Fußboden verstreut. Vor allem der an der Begleitgitarre wütende Spieler schabte sich seine verschorften Wunden regelmäßig frei. Sein Fingerfleisch war zwar nicht unser Fleisch, sein auf die Gitarre spritzendes Blut war nicht unser Blut, wir hätten unserFleisch und Blut aber ohne weiteres auch hergegeben. Trotz aller Bewußtseinstrübung bekam ich manchmal auch noch mit, wenn einer aus der Band zusätzlich von einem Stromstoß gekrümmt wurde. Kurzschlüsse waren damals an der Tagesordnung, zwangen die Bands in der Regel aber nicht, eine feige Pause einzulegen. Die meisten der Verstärker waren nicht mit Transistoren bestückt, sie protzten noch mit vielen glühenden Röhren und strahlten eine Affenhitze ab. Wegen der besseren Kühlung hatte man sie von ihren Gehäusen befreit, die Explosivität und Gefährlichkeit der Lage war gut sichtbar und ohne weiteres greifbar. Um uns herum stand sowieso alles unter hochgepeitschter Spannung. Auch die Lautsprecher — die älteren Jahrgänge jedenfalls — waren damals nicht niederohmig, die entsprechenden Verstärkerausgänge brummten tatsächlich noch unter der Gleichstromkraft von genau hundert Volt.
Wir feuerten begeistert auch die Techniker an, die nebenbei pausenlos zu tun hatten. Manchmal löteten sie sogar bei laufendem Konzert an den durchgebrannten und verstummten Teilen der Apparatur. Und wenn sie nicht weitere Kurzschlüsse verursacht hatten und aus einem der Lautsprecher plötzlich wieder Kanonendonner kam, konnten wir ihnen in ihre glücklichen Augen blicken. Diese ganze sich wie aus dem Nichts reproduzierende Realität nahm irgendwann auch mir die Reste meiner Zurückhaltung — und aus meinem Hals kam tierisches Brüllen. Uns allen war längst deutlich, daß dies genau das war, was der Welt aktuell verkündet werden mußte — und klarer ließ sich die Botschaft nicht artikulieren. Die Kraft war bei uns, und wir wußten, daß sie jederzeit wieder freigetanzt, freigelacht und als eine zusammengeballte Sprengladung eingesetzt werden konnte. Von da an wußten wir außerdem, daß das Leben noch viel mehr zu bieten hatte, als wir uns bislang hatten einreden lassen. Das Loslassen fiel uns leicht, irgendwelche Einführungskurse hatten wir nicht nötig. Als wir nach denKonzerten nach Hause gingen, sahen wir uns gegenseitig keinesfalls befremdet an. Es war nachmittags, wir waren nüchtern. Wir waren allerdings dreckig, heiser und verschwitzt — trotzdem voller Schönheit. Und wir waren alle noch am Leben.
Im Laufe der Jahre wurde langsam klar, daß sich in unserer Gemeinschaft nicht nur die Stärksten und Lebendigsten zusammengefunden hatten, sondern auch die Gefährdeten. Einige, die in der Clique weich aufgehoben gewesen waren, wurden später leicht bis schwer verrückt, zwei von unseren Mädchen nahmen sich unabhängig voneinander und in schneller Folge das Leben — wenige Jahre, nachdem die Clique auseinandergefallen war.
Als sie noch alle da waren, liefen die Mädchen manchmal in einer Reihe vor uns — mitten auf der Straße. Wenn keine von ihnen fehlte, waren es sechs. Und im Sommer, wenn sie alle Miniröcke anhatten, bewegten sich vor uns zwölf wunderschöne schlanke Beine. Manche waren gerader als andere, manche drückten sich im Kniegelenk mehr nach hinten als andere, nicht alle trugen den Schwerpunkt des zu ihnen gehörenden Oberkörpers genauso würdevoll und harmonisch, wie man es ihnen gewünscht hätte. Vollkommen waren sie trotzdem alle. Und ich weiß noch, daß ich damals schon rätselte, wieso man so etwas wie die Rückseite eines Knies überhaupt als schön empfinden kann; ausgerechnet die — besonders harten funktionalen Zwängen unterworfene — Quetsch- und Biegezone eines Gelenks, das unter Ärzten als» vom Gott im Zorn erschaffen «gilt. Links und rechts sieht man dort — also an dieser abgewandten und wenig beachteten Schattenseite des Knies — zwar stolzsehnige Muskelstränge, der Rest wird dagegen lediglich von einem etwas plumpen und wulstigen Mittelteil gebildet.
In der abschüssigen Seitenstraße des Diplomatenviertels gab es wenig Verkehr, die Mädchen, ihre Beine, Hüften.Schultern, ihre Füße, deren Spitzen so unterschiedlich schräg nach außen gerichtet waren oder — was damals modisch war — leicht nach innen zeigten, hatten die ganze Straßenbreite in der Regel für sich allein. Durchfahrende Autos zwangen uns ab und an zu trägen Ausweichmanövern, konnten unsere Formation aber nur kurzzeitig durcheinanderbringen, manche Automobile — die Sterne des damaligen Designhimmels — lenkten uns dagegen unanständig stark ab, verwirrten uns regelrecht erotisch. Die Eleganz des Citroen DS war verstörend, da dieses Auto offensichtlich von Männern gebaut worden war, die nicht nur in ihrem Arbeitsleben permanent verliebt waren. Ganz andere Gefühle provozierte dagegen die tiefliegende Kraft des Mercedes 230 SL. Es war der W 113er — das noch nie dagewesene Wunder mit dem an den Seiten nach oben gewölbten» Pagodendach«. Wenn seine Reifen mit Spikes beschlagen waren, klirrte es auf den bräunlichen Katzenköpfen der Pflastersteinstraße wie auf einer Tanzfläche mit zwei Dutzend Stepptänzern.