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Ich glaube nicht, daß ich etwas verzerre, wenn ich im Zusammenhang mit diesen Prager Jahren dauernd von Erotik spreche. Prag war schon seit meiner zarten Kindheit einfach voll von Zeugnissen und Spuren, die einen wie grelle Blinksignale aufschreckten und den Alltagsgleichlauf mit Synkopen durchsetzten. Alles, was konnte, fuhr aus der schlaffen Vorhaut hinaus und präsentierte sich ungeschützt, glänzend und eichelfest. Die hammerstarken und trotzdem unzuverlässigen Antibabypillen aus der heimischen Produktion hatten damals noch einen sehr schlechten Ruf (Bartwuchs als Nebenwirkung!), und überall lagen benutzte Präservative herum. An ihnen klebten noch gekräuselte Schamhaare, innen schwammen — frisch oder vergammelt — die von uns so genannten» flüssigen Kinder«. Woher kamen alle diese Gummis? Man sah sie meistens nah an den Häuserfassadenoder in den Vorgärten der Häuser liegen. Ich nahm daher an, daß sie von vorsichtigen Liebhabern verheirateter Frauen aus den Fenstern geworfen worden waren. Auch in den vielen dichten Büschen unserer schönen Parks knisterte es andauernd, weil nicht nur die Jugend und spielende Kinder diese Dschungelzonen zum Schutz vor fremden Blicken nutzten. In diese Verstecke verkrochen sich auch ältere Liebespaare, die sich besonders leidenschaftlich küssen und umarmen wollten. Manche schoben sich so unvorsichtig gegen die Wände aus Ästen, bis sie ins Wanken kamen. Und wenn sie Pech hatten, fielen sie aus einem der am Rand gepflanzten Eibenhecken auf den öffentlichen Parkweg. Manche drückten sich wiederum so heftig aneinander, daß sie bei ihren Gleichgewichtskämpfen in irgendwelche dort reichlich vorhandenen Kothaufen traten. Nur die wenigsten dieser Verunreinigungen stammten von Hunden. Die heftigen Liebesaktivitäten fanden teilweise in tiefer liegenden Geheimgängen statt, die ich schon seit langem kannte und gewissermaßen auch als meine ansah. Dank meiner Vorkenntnisse war ich in der Lage, mich diesen Verstecken jederzeit von unterschiedlichen Seiten zu nähern, sie notfalls aus irgendwelchen Baumkronen zu observieren. Die erwachsenen Eindringlinge wühlten sich nach den Umarmungsakten aus den kratzenden und staubigen Büschen heraus, schabten sich — bevor sie flüchteten — den schlimmsten Dreck von den Schuhen oder Kleidern. Und sie ließen mich oder uns darüber grübeln, ob sie vorgehabt hatten, sich auch zwischen den Beinen zu begegnen. Einiges konnten wir uns so genau noch nicht vorstellen. Manchmal hatten wir das Gefühl, ihre Organe wären bereits ganz nah beieinander gewesen.

Auch der eher unscheinbare Bastler Skopka, der in der neuen Schule in meiner Klasse — wenn auch nicht direkt an meiner Seite — geblieben war, veränderte sich. Er quälte keine unschuldigen Fliegen mehr, war weiterhin ein technischaktiver Nachwuchskader, trotzdem zwangen die unsichtbaren erotischen Kräfte auch ihn, sich im Leben anderen Dingen zuzuwenden. Als er im Fotozirkel professionelle Reproduktionstechnik mitbenutzen durfte, fotografierte er nicht nur unsere wunderschöne Stadt, nicht nur schöne Landschaften oder Naturphänomene, er fotografierte nebenbei auch aufreizende Frauen aus irgendwelchen Westzeitschriften ab — meistens nur ihre Gesichter; die Bildausschnitte schlossen höchstens noch die Busengegend mit ein. Anschließend vergrößerte Skopka seine Idole auf die allergrößten Papierformate, die er auftreiben konnte. Diese überdimensionierten Köpfe hingen dann in seinem großen Zimmer an der Wand. Und da man ihn nicht dauernd besuchen durfte, fuhr man gern mit dem Fahrrad an seinem Haus vorbei, wo er im ersten Stock wohnte. Die schönsten seiner Mädels waren so plaziert, daß man sie auch von draußen gut sehen konnte. Sein Topgesicht gehörte einem typisch angelsächsischen Mädchen mit langen blonden Haaren, einem Mittelscheitel und vielen wunderbaren Sommersprossen. Die leicht vorstehenden oberen Zähne gaben diesem Wunderwesen den reizendsten Mundausdruck, und die wegen der Sonne leicht zusammengekniffenen Augen schienen voller sexueller Erwartung zu sein. Diese Favoritin meines begabten Freundes Petr Skopka war lange Zeit das aufregendste Frauengesicht, das ich kannte.

Eine Entwicklung zur ruhigen Intellektualität war damals in Prag tatsächlich nicht möglich, für mich jedenfalls nicht. Massive Störungen meiner Aufmerksamkeit gab es in meiner Kindheit von Anfang an — auf jeden Fall so lange, wie ich zurückdenken kann. Schon in der ersten oder zweiten Klasse versetzte ein Mädchen den männlichen Rest der Klasse in äußerste Unruhe, indem es in der Pause verraten hatte, an dem gerade so heißen Tag keinen Schlüpfer angezogen zu haben. Die Unruhestifterin war unter ihrem Rock also nackt. Sie erzählte es zwar nur ihrer besten Freundin.trotzdem verbreitete sich die Nachricht in der Klasse wie ein Lauffeuer, und die nachfolgenden Unterrichtsstunden waren eine einzige Katastrophe. Den Jungs fiel andauernd etwas aus der Hand, und sie suchten die schwer auffindbaren Dinge lange auf dem Fußboden, krochen durch die Gänge, kamen nicht hoch, kollabierten wiederholt. Pausenlos bückte sich jemand oder balancierte in einer gefährlichen Schräglage, einige überschätzten dabei die Bodenhaftung ihrer Stuhlfüßchen und fielen um. Und diejenigen, die sich gerade ausruhten und nicht unterwegs waren, hörten gar nicht zu, wenn die Lehrerin sie etwas gefragt hatte. - Kann mir jemand verraten, was heute los ist?

Natürlich reiften auch meine Cousinen zu richtigen Frauen und versetzten mich mit ihrer Körperlichkeit wiederholt in Alarmzustände — und das ebenfalls von klein auf. Ihrem Vater, dem Onkel ONKEL, erzählten sie von ihren Geheimnissen nichts, ihre Mutter arbeitete Tag für Tag aus freien Stücken bis zum Umfallen — und die beiden Knöspchen hatten keinen anderen Vertrauten als mich. Ich war zwar nicht der älteste von uns dreien, ich war aber ein Mann; und die beiden Frauen sahen in mir gemäß der — wenigstens in der Theorie vorhandenen — Familienkonzeption denjenigen, der alles besser zu wissen hatte. Die jüngere Cousine steckte sich in den Anfängen unseres Trio-Daseins gerne alles mögliche in die Ohren oder in die Nase. Eines Tages blieb ihr eine Erbse in einem der Nasenlöcher stecken und ließ sich nicht herausschnauben. Die Unglückliche kam zu mir, auch weil ich eine gute Taschenlampe und verschiedene Lupen besaß. Nach der aufregenden Untersuchung — das Innere einer Frau, gibt es etwas Schöneres? — beschlossen wir, die Sache zu beobachten und erst einmal nicht zu melden. Das war aus mehreren Gründen schade, weil ich damit meine unzureichende Kompetenz bewiesen und die Perspektive verspielt hatte, bei Untersuchungen wichtigerer Öffnungen mitmachen zu dürfen. Nach zwei Tagen spürte die Cousineeinen leichten Druck in der Nase und bekam Kopfschmerzen. Nach zwei weiteren Tagen suchte sich schon ein Keimling den Weg zu mehr Licht.

Bei den Untersuchungen unserer Mundhöhlen durfte ich trotzdem weiter mitmachen. Bei uns allen kamen damals beim Husten — oder wenn man tief im eigenen Rachen mit dem Finger stocherte — elastische, gelb-eitrige Flocken aus der Schleimhaut zum Vorschein, die die Form von Pinienkernen hatten, manchmal aber doppelt so groß waren. Besonders im Winter war die Ernte reichlich. Die Erwachsenen sollten von diesen Fundstücken nichts mitbekommen. Wir zeigten uns unsere Absonderungen dagegen sehr gern, sammelten sie in einem Gläschen. Das letzte große Geheimnis war dann die erste und viel zu frühe Menstruation der älteren und vollkommen unaufgeklärten Cousine. Sie zeigte mir, dem Mann, ihr Blut, und wir beide bekamen große Angst. Meine Schlußfolgerung, sie würde nie Kinder bekommen können, lag auf der Hand. Unsere enge Gemeinschaft zerfiel dann aber sowieso bald. Ich tauchte in das wilde Leben meiner Clique ein — und die beiden Cousinen wollten mit diesem verdorbenen Haufen nichts zu tun haben. Sie waren gesittete und früh zu Bürgerlichkeit neigende Wesen. Und wir entfremdeten uns schon während dieser meiner ersten Absprungphase immer mehr. Ich verbrachte die ganzen Nachmittage mit meinen Leuten im Park, oben auf dem grün-buckligen Stadttor oder in gerade elternfreien Wohnungen und sah die Cousinen an manchen Tagen kaum noch. Es verbot sich fast, bei unseren täglichen Treffen der Clique zu fehlen. Mein guter Status dort beruhte unter anderem darauf, daß ich Gitarre spielen konnte. Und ich wollte möglichst jeden Tag spielen und mit den neu einstudierten Songs glänzen. Mein Englisch wurde auch dank meines Privatunterrichts immer besser.