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Einige Tage nach dem Brand klopfte nachmittags jemand heftig bei uns an die Tür. Weil ich sonst nie Besuch bekam, war ich normalerweise nicht gemeint, wenn es an der Tür Geräusche gab. Aber Klopfen konnte genausogut auch Unheil bedeuten. Ich ging hin, in der Wohnung regte sich sonst niemand — und vor mir stand die gesamte Motorradmeute. Ich war mir sicher, daß mich jemand der Brandstiftung beschuldigt haben mußte. Am meisten fürchtete ich mich vor einem der Schläger — er hatte ein extrem flaches Gesicht, und die Haut, mit der dieses bespannt war, sah immer leicht gerötet aus. Vielleicht war daran seine Leber nach überstandener Gelbsucht schuld, vielleicht Alkohol oder hoher Blutdruck. Und egal, wie medizinisch ahnungslos ich damals war, solche bedrohlichen körperlichen Signale registrierte ich ganz deutlich. Auf jeden Fall sah dieser Mensch immer geladen und wütend aus und hatte riesige Fäuste. Es war sein Motorrad, das abgebrannt war. Angeblich kämpften und rivalisierten die Burschen um irgendwelche Bräute, die in den Büschen angeblich von dem einen oder anderen stehend flachgelegt wurden — dauernd oder abwechselnd… den eigentlichen Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte kannte niemand. Vor der Tür standen auch der immer fesch frisierte Pegina und einer, der den Spitznamen Tarantel hatte — aber auch einer der Monik-Brüder war dabei. Von den beiden Brüdern wird später noch kurz die Rede sein — und von ihrer sensiblen Schwester Libuse Monikovä.

Neun harte Burschen standen also vor meiner Wohnungstür. Sie sahen an diesem Tag allerdings ungewohnt friedlich aus. Einer von ihnen hielt eine Schallplatte in den Händen, und bald wurde klar, worum es ihnen ging. Alle in der Gegend vorhandenen Plattenspieler waren für diese heilige Platte nicht gut genug. Und im weiten Umkreis war offenbar bekannt, daß ich — in Wirklichkeit meine Mutter — einen nagelneuen Plattenspieler mit einer Stereonadel besaß. Die Bande wollte sich die Platte bei mir anhören.

— Es muß eine Stereonadel sein, meinte der Besitzer der Platte. Wir haben zu Hause Stereo, mein Vater spinnt aber im Moment.

— Unser Radio ist leider nicht stereo. Kommt aber, unbedingt.

Der Hillclimbing- und Schlägertrupp zog sich im Flur die Schuhe aus. Wir gingen zum Grammophon, auf dem ein uraltes Monoradio aus schwerem Holz stand. Meine Mutter war arbeiten.

— Der Sound wird gut, meinte jemand.

— Gutes altes Röhrengerät, sagte ein anderer.

— Hat aber keine Höhen, sagte der nächste und hatte vollkommen recht.Das eigentliche neue Grammophon war ein richtiges kleines Schränkchen auf dünnen Beinen, seine hellackierte Vorderwand ließ sich hochklappen und ins Innere hineinschieben. Es war eine Art Schrein. Die meisten meiner Besucher knieten davor wie vor einem Minialtar, andere saßen im Schneidersitz, der Rest blieb respektvoll stehen. Übersetzt hieß die Band, die auf dem Umschlag zu sehen war, etwas schlicht» Die Türen«. Schon bei den ersten schnellen Stick-Schlägen ahnte ich kurioserweise, daß es auch Explosionen geben würde. Diese kamen dann auch. Mir sägten sich aber schon die ersten bedrohlich verzerrten Gitarrentöne tief in mein Gehirn — und das für immer. Die Stimme des Sängers klang absolut ungeschützt, frei von jeder Lüge — und dieser Mensch war auch optisch eine unheimliche Erscheinung, er war zum Verlieben schön, geschlechtsübergreifend.»The Doors «machten eine Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte. Niemand spielte so ohne Selbstzweifel Keyboard wie der Blonde mit der Brille. Und Jim Morrison schien bei aller Härte ein sanfter Kerl zu sein. Wenn er klagte, klang es mutig, und er tat es, ohne zu jammern. Sein Sommer war lange noch nicht zu Ende, seine Stimme schien darüber trotzdem Bescheid zu wissen.

die besüßte schien leicht nach innen zu lächeln

Mein Reifen wurde seit meiner Windelzeit nicht nur durch die häusliche Erotisierung des Alltags begleitet, sondern gleichzeitig mit Informationen aus Politik, sogar Weltpolitik unterlegt. Zum Glück, sage ich mir heute. Sonst hätte mich eines Tages vielleicht der sexschleimige Ekel eingeholt und in irgendeinem Bordell auf ein Traumsofa kotzen lassen. Wenn ich hier von Politik spreche, meine ich es nicht im verwässerten Sinn des Wortes — wie irgendein umtriebiger Schönformulierer. Meine Mutter, deren erotische Präsenz Wände und Mauern durchstrahlen konnte, lebte gleichzeitig für und durch die Politik — und das ganz konkret, sie tickte synchron mit den Weltereignissen, ihr Wissen war immer auf dem aktuellsten Stand. Daß ich, das Kind, daran unmittelbar partizipieren konnte, habe ich unter anderem einer kinderfingerdicken Zeitschrift aus Westdeutschland zu verdanken, die Mutters Redaktion Woche für Woche bezog und die meine Mutter — sie arbeitete in der Auslandsabteilung — regelmäßig mit nach Hause brachte. Diese Zeitschrift hieß»Der Spiegel «und bedeutete auf Tschechisch» zrcadlo«. So wuchs ich von Angesicht zu Angesicht mit Reizen auf Hochglanzpapier auf, die sich wöchentlich erneuerten und mit denen die Normalsterblichen in Prag nicht in Berührung kommen konnten. Und unser» Spiegel «war nicht nur voller Politik, er quoll außerdem über vor raffinierten Reklamen, auf denen mit der Zeit immer mehr engelsgleiche Frauenwesen abgebildet waren. Solche Schönheiten liefen in Prag nirgendwo herum, das sozialistische Regime wäre nicht einmal technisch in der Lage gewesen — trotz reicher Erfahrungen beim Lügen undTäuschen — , uns eine Parallelexistenz solcher Apostelinnen mitten in unserer Gesellschaft vorzugaukeln. Die Mangelwirtschaft präsentierte sich lieber realistisch, das heißt trostlos. In diesem Kontext wirkte» Der Spiegel «schon äußerlich wie eine Provokation und Anklage. Ich blätterte in meinem und Mutters» Spiegel«, tauchte in die Gemischtwarenwelt dieses konkurrenzlosen Magazins, in dem neben Bildern von Leichen die weibliche Vollkommenheit einen damals noch bescheidenen, aber festen Platz hatte. Wirklich nachvollziehbar war dieses Nebeneinander für mich nicht, ich führte es damals, glaube ich, auf die Durchsetzungskraft der Schönheit zurück. Da ich mich ausgerechnet auf die Probleme der fraulichen Reize konzentrierte, blieb das geplante Entziffern der Texte oft auf der Strecke. Aber immerhin — im großen und ganzen wußte ich, wo es auf der Welt brannte, und in mir sammelten sich Fragen, die ich meiner Mutter bei Gelegenheit — mit Vorliebe morgens unter ihrer Bettdecke — stellen konnte.

Sie hielt mir außerdem regelmäßig politische Vorträge — und das tatsächlich von klein auf, noch bevor» Der Spiegel «begonnen hatte, uns zu begleiten. Sie nannte diese kleinen Vorträge scherzhaft» politische Schulungen«. Und meine Mutter war tatsächlich in der Lage, mir hochprofessionell die Verhältnisse in den entlegensten Gegenden der Erde zu erklären; ob es dabei um das im Weltatlas kaum zu findende Land Ruanda-Urundi ging — als gerade die verwickelte Teilung dieser ehemaligen Kolonie in Ruanda und Burundi im Gange war — oder um Vietnam mit der vor einigen Jahren eroberten, früher aber als uneinnehmbar geltenden französischen Festung Dien Bien Phu. Den Fall von Dien Bien Phu hatte meine Mutter als junge Journalistin vorausgesagt, besser gesagt sich vorausgewünscht — und zwar noch lange vor dem militärisch beeindruckenden und raffinierten Sieg der Vietnamesen. Meine Mutter war sehr stolz auf ihre Kenntnisse und ihren Überblick, wobei siesich bei ihrer weltumspannenden Supervision — etwas gewichtsverfälschend — besonders auf extreme Diktaturen, brutale Militärjunten oder wegen des brutalen Mordens einsam gewordene Tyrannen konzentrierte. Über den Völkermord an den Armeniern wußte ich seit meinen Kindertagen Bescheid, den Lebensweg des Schlächters Idi Amin Dada verfolgten ich und meine Mutter seit der Karriere dieses Idioten beim Militär. Der Einmarsch der fortschrittexportierenden Chinesen in Tibet blieb in mir dank meiner Mutter ebenfalls fest gespeichert.