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Mutters politisch-geographisches Wissen hatte allerdings gewisse Grenzen: Weil sie seinerzeit in das Ghetto von Theresienstadt und nach Auschwitz übersiedeln mußte, wurde sie um ihre Gymnasialzeit gebracht und ging nach dem Krieg und einem Ruck-Zuck-Abitur direkt auf die Universität. Sie holte vieles selbständig und gezielt nach, ihr fehlten aber trotzdem die gesamte geistesgeschichtliche Bildung, vollständig auch alle naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse. Und so sehe ich meine wunderschöne Mutter bis heute vor mir: Sie steht wie eine professionelle Vortragende mitten im Zimmer, in der Hand den» Spiegel «mit einem breitaufgeplusterten Gesicht darauf (immer wieder dem aus Bayern) und erzählt mir beispielsweise vom Poker um die Gründung des Staates Israel — also über das Dilemma der Engländer, die stillen Ängste der Amerikaner und die falschen Hoffnungen der Russen. Sie erzählt und erzählt und hat von der kapillaren Elevation, von Bruchrechnung oder Altphilologie keinen blassen Schimmer. Erotischer und aufregender kann politische Bildung trotzdem nicht sein, glaube ich.

Der vollkommen nackte Rücken der badenden Marilyn Monroe — 1962 im» Spiegel «abgedruckt — erregte damals noch großes Aufsehen, die nachfolgenden Leserbriefe waren voller Empörung. Ab 1962 begann man aber endlich auch auf der Titelseite beeindruckende Frauengesichter abzudrucken — und nach und nach bauten die Frauen ihre Präsenz auch in der Reklame immer weiter aus. Genau zum richtigen Zeitpunkt, muß ich mit Erleichterung sagen. So reifte an meiner Seite auch» Der Spiegel«, reifte nebenbei die gesamte Werbekultur.

Einen Haken hatte meine Zusatzausbildung aber schon — ich war für die Schule viel zu gut informiert. Ich wußte beispielsweise über die wirtschaftlichen und anderen Katastrophen in der Sowjetunion Bescheid, die der Bevölkerung aller Bruderstaaten verschwiegen worden waren. Ich erwähnte einmal das massenhafte Abschlachten von Pferden, die unter Chruschtschow als nutzlose Grasfresser abgestempelt worden waren — mit der Folge, daß der Kraftstoffverbrauch drastisch in die Höhe schoß. Auf dem Land fuhr man wegen jeder Schachtel Machorka einfach mit dem Traktor einkaufen — jedenfalls dann, wenn der gesamte Fuhrpark nicht gerade komplett lahmgelegt war. Meine Mutter hielt mir nach einer meiner Entgleisungen einen wichtigen Vortrag über» Politik als die Kunst des Möglichen«, den sie mit Churchills listigem Spruch abschloß:»Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen. «Böse Fallen warteten aber sowieso überall. Ich griff manchmal spontan auf nützliche Begriffe wie die» sowjetische Einflußsphäre «zurück — im offiziellen Sprachgebrauch war dieser Begriff natürlich tabu. Dem Volk wurde zum Beispiel auch der eigentliche Name des ägyptischen Staatspräsidenten und Sowjetfreundes NASSER — was auf tschechisch» Scheiß drauf «bedeutet — verheimlicht, und er wurde geschickt in Nassir umgewandelt. Oder daß der widerspenstige Kardinal Mindszenty immer noch — seit 1956 wohlgemerkt — mitten in Budapest in der amerikanischen Botschaft lebte, schien auch niemand mehr zu wissen. Bald erzählte ich über politische Angelegenheiten in der Schule lieber gar nichts mehr.Unsere Clique hatte in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zusammengefunden. Den meisten war die Politik zwar egal, apolitisch waren wir — so wie wir uns benahmen — aber nicht. Als ein politisches Abenteuer sehe ich vor allem unseren erotisch unterfütterten Widerstand gegen die Schulleitung. Die totalitären Kräfte unter den GENOSSEN LEHRERN witterten in unserer gravitationsstarken Zusammenrottung eine Gefahr, eine gesellschaftliche Eiterbeule, die nur Unheil streuen konnte. Und sie irrten sich nicht. Unser Drang nach Freiheiten war ansteckend, war vor allem wegen des dauerhaft vorhandenen Samendrucks und der starken Duftmarken, die die Mädchenkörper pausenlos abgaben, nicht wirklich beherrschbar — er entzog sich oft auch unserer eigenen Kontrolle. Obwohl wir damals noch nicht miteinander schliefen, standen wir schon alle in den Startlöchern und zitterten vor Aufregung. Den Anfang machte einer unserer Sitzenbleiber, der Besitzer des gutgenährten» Bullen«. Er hatte ein auswärtiges, cliquenfremdes Mädchen zur Hand & zum Glied, das mit ihm ab und zu schlief. Die Nichtmeer-Jungfrau kam zu ihm zu Besuch, blieb eine halbe Stunde und ging dann wieder — so einfach war das. Ihr Gang beim Verlassen des Hauses war (im Vergleich zu vorher) unverändert und verriet uns über das gerade Abgelaufene überhaupt nichts. Wir, die über den Zeitpunkt der Zusammenkunft unterrichtet waren, standen an der Ecke, quatschten und waren darauf aus, alle verwertbaren Informationen zu sammeln. Leider hatte sich das Geflecht der Fragen angesichts dieses Defilees eher vergrößert — es ging um Fragen, die wir uns in ihrer Konkretheit gegenseitig nicht unbedingt stellen wollten. Einen Eindruck übermittelte uns das besüßte Wesen allerdings doch: Es schien leicht nach innen zu lächeln.

Unsere Clique war gegen die Lehrergewalt gut gerüstet. Manche von uns waren schwer zu treffen, weil ihnen alle Zensuren und Beurteilungen gleichgültig waren. Anderewaren dagegen viel zu intelligent, um Angst vor den Machtmitteln der Schule haben zu müssen. Unser wirklicher Gegner vor Ort war jemand anderes — es war der muskulöse, in einer schuleigenen Kellerwohnung hausende Hausmeister. Er war an sich ein humorvoller, alkohol- und lebensfroher Mensch, mit dem man sich an manchen Tagen unproblematisch, wie von Mann zu Mann, austauschen konnte. Er hatte aber auch ganz andere Seiten. Im Alltagsgeschäft setzte er auf die disziplinierende Wirkung von Gewalt. Mehr noch: Nachträgliche Bestrafungen hielt er für lächerlich und an sich schon für einen Ausdruck von Schwäche. Er bestrafte am liebsten präventiv, ohne die Wahrheit wissen und irgendwelche Schuldigen ausmachen zu wollen. Seine Maßregelungen SOLLTEN offenbar, wie mir später aufging, ungerecht, unverhältnismäßig und kulturlos sein, um ihre spezielle Wirkung zu entfalten.

Wenn der Mann manchmal — beispielsweise früh vor dem Unterricht — schlechte Laune hatte, wartete er grimmig am Eingangstor und beobachtete seine in die Schule einströmenden Schäfchen besonders aufmerksam. Er fokussierte verbissen und scharf alle, die aus der Reihe tanzten oder irgendwelche Auffälligkeiten zeigten, konzentrierte sich dabei vor allem auf die notorisch Frechen. Alle Wiederholungstäter hatten natürlich mit einer verschärften Zuwendung zu rechnen. Manche der jüngeren Schüler waren in der Frühe oft viel zu munter und aufgekratzt, benahmen sich unvorsichtig und mußten schon im zarten Alter ihr Lehrgeld zahlen. Wir, die wir wegen unserer Gruppenbildung und der bandenmäßigen Aufsässigkeit bekannt waren, paßten schon besser auf — wenn auch nicht immer. An bestimmten Tagen reichte dem Scharfrichter lediglich, wenn ihm jemand etwas zu auffordernd in die Augen geschaut hatte oder sich traute, durch seine schon mehrmals beanstandete Kleidung aufzufallen — oder» immer noch nicht beim Friseur «gewesen war. Manchmal wollten wiraber ausdrücklich, daß der Krieg ausbrach, und wir konnten ihn jederzeit bekommen. Eine kleine gezielte Bemerkung reichte vollkommen. Und wir wußten genau, wie der Mann — bei aller Höflichkeit, versteht sich — am besten zu reizen war.

— Wie brennt's heute? sagte einer beispielsweise, um anzudeuten, daß der Mann vielleicht doch lieber den Heizkessel kontrollieren gehen könnte.

Nach einer solchen Attackenbitte lief der Mann rot an, rannte los und verpaßte dem Frechling und potentiellen Schwerverbrecher einen zentnerschweren Fußtritt in den Arsch. Diese Strafe gehörte zum Standard, unser Hausmeister behandelte zarte Jungs genauso wie die robusten. Er trug grundsätzlich schwere Arbeitsschuhe, die oft mit Asche, Kohlenstaub oder anderem Dreck bedeckt waren. Seine überfallartigen Stiefelattacken erfolgten oft impulsiv, eine verbale Provokation war nicht immer unbedingt nötig. Alles ging blitzschnell, in den meisten Fällen fiel bei dem ganzen Vorgang kein überflüssiges Wort. Alle schauten stumm zu, und die Genossen Lehrer ließen den Mann jahrelang richten. Seine Treffer schmerzten oft mehrere Tage nach.