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Seltsamerweise habe ich an die warme Gewalttätigkeit des Herrn ERBEN, der genauso wie einer unserer Nationaldichter hieß, ausgesprochen gute Erinnerungen. Einerseits imponierte er mir als ein Kraftprotz, andererseits wußte ich, daß jeder von uns ihm gegenüber doch etwas Schuld abzutragen hatte. Wir waren jung, fröhlich und lebten nicht verlassen in einem Kellerloch. Andere Erlebnisse waren für mich in dieser Zeit vielleicht prägender als diese Fußtritte, hatten dafür aber keine besondere Anschubkraft. Die Fußtritte besaßen sie, und die arschblauen Flecke zeugten davon wie amtliche Stempel. Sie haben meinen Werdegang auf keinen Fall behindert. So gesehen habe ich an dieser Stelle keinen Grund, um meine Vergangenheit übertriebenbesorgt zu sein. Meine Vergangenheit ekelte mich in bestimmten Zeiten aber trotzdem unendlich an, und ich begann — punktuell jedenfalls — , diejenigen Menschen zu verabscheuen, die ostentativ mit einem dauerhaften Zufriedenheitslächeln herumliefen und meine Art von Ekel aus Eigenproduktion offenbar nicht kannten.

Mir wurde immer wieder vorgeworfen, mich zögen ekelerregende Objekte und Vorgänge magisch an. Es ist zugegebenermaßen nicht ganz unwahr, ich ekelte — und ekele — mich in meinem Leben nicht nur ungern. Ich betrachtete alles Unappetitliche aber immer schon als etwas Nützliches, beispielsweise als einen zukunftsorientierten Lieferanten von Nährstoffen. Ich verinnerlichte den Ekel jedesmal, zerinnerlichte und verdaute ihn ohne Rückstände, phantasierte in diesem Zusammenhang gern über die süßen, in egal welchem Ekelbrei atomar doch bereits vorhandenen Früchte — rote Erdbeeren, blaue Heidelbeeren oder meine geliebten grünen Stachelbeeren. Auf diese Weise konnte ich jedes in mir abgespeicherte Grundmaterial — nicht den Ekel als solchen — in vollkommen neutraler Form für später retten. Meine Zukunft sollte unbedingt strahlen und duften. In den Ferien fiel ich einmal in eine Jauchegrube. Danach begriff ich, daß man deswegen — entgegen der festen Überzeugung einiger meiner Tanten — vor Ekel nicht unbedingt zu sterben brauchte. Ich merkte vielmehr, daß sich jeder Dreck problemlos abwaschen ließ.

Ein einschneidendes Ekelerlebnis betraf dummerweise aber auch die Sexualität. Als ich eine Zeitlang bei der Müllabfuhr arbeitete, mußte ich Tag für Tag mit vielen rauhen und nicht unbedingt nur nach Seife und Deos riechenden Mitarbeitern klarkommen. Der unappetitlichste von ihnen war allerdings nicht der schlimmste Grobian und Schweiß-stinker, sondern ein Halbidiot, der außerdem ein sex- und religionsbesessener Fanatiker war. Seine Frau war auch etwas intelligenzgestört, dafür übertraf die sexuelle Leistungsfähigkeit der beiden alle mir bis dahin bekannten Männerprahlereien. Diese gehörten während der Frühstückspausen sowieso zum Pflichtprogramm. Der Musterkatholik und seine Frau, die ihren Potenzprotz in den Pausen oft besuchen kam, verbrachten wahrscheinlich ihre gesamte Freizeit mit Ficken. Und auch die Frau war stolz auf diese gottgegebenen und dem Allmächtigen offenbar gewidmeten Rituale. Für die beiden war es, sie deuteten es sogar an, eine Art heilige Pflichtübung. So erklärte ich mir ihre Schamfreiheit. Wir bekamen jeden zweiten Tag erzählt, wie oft bei ihnen in der Nacht wieder gerammelt worden war, sechsmal, siebenmal, achtmal — und bei der nächsten Berichterstattung ging es genauso langweilig weiter. Von unseren Frühstücksbroten tropfte regelrecht der fremde, mit Scheidenschleim vermischte Samen in Strömen herunter. Sex, Sex, purer Sex, nichts anderes als — doch geistloser — Sex. Bald wurde mir schon beim Anblick der sich nähernden Samenabnehmerin und — entsorgerin übel, und ich versuchte, wenn es ging, draußen auf einer Bank zu frühstücken. Bei meinem Müllabfuhrbetrieb, in dem insgesamt sowieso keine hohen hygienischen Standards galten, zeigte mir der Sex zum Glück auch diese seine desinfektions- und transzendenzresistente Seite. Wenn es im Leben mancher Individuen nur um Sex gehen sollte, dachte ich, könnten sich solche Leute auch in einen Zoo einsperren lassen, um dort vor aller Augen irgendwann zu sterben — vor Scham oder schamlos, auf jeden Fall aber fickend. Auch andere Bilder quälten mich: Wenn ich mein Leben auf dieser Welt als ein Bulle zu fristen hätte, hätten mich unweigerlich Hinterbacken von Kühen angezogen; und auch die schlimmsten Fliegenschwärme oder kotverschmierte Hüften hätten mich von meiner Kuh-Liebsten nicht fernhalten können.

Trotz der gerade geschilderten Erlebnisse und Phantasien möchte ich vorausschicken, daß meine Geschichte sich vorwiegend in sittlichen und appetitlichen Bahnen bewegen wird. Trotzdem: Um mich herum ging es nun mal dauernd mehr oder weniger um Sex. Daran kann ich wenig ändern. Lachende Mädchenmünder trainierten nebenbei ihre Lutschlippen, sie trompeteten — schien mir — Takte aus noch auszuführenden Orgasmus-Ouvertüren, alle weiblichen Hüftbewegungen luden zum Sex im nächsten Fünfjahrplan ein, und sogar das Pissen war eine sexbeladene Handlung. Ich weiß nicht, ob es immer so und für jeden genauso sein muß, damals in Prag war man — und blieb man — in dieser Sexklammer aber wie gefangen. Viele Menschen waren nach dem Krieg aus dem Exil oder vom» totalen Einsatz «im Dritten Reich zurückgekehrt, andere hatten mehrere Jahre Konzentrationslager hinter sich. Und denjenigen, die daheim geblieben waren, saß die Angst tief in allen ihren Knochen. Die politische und existentielle Bedrohung setzte leider bald wieder ein. Gewisse Freiheiten mußten die tschechischen Stalinisten dem Volk aber auch in den härtesten Zeiten des Klassenkampfes lassen. So blieb die Sexausübung im Sozialismus die ganze Zeit straffrei, und das wenig produktive, streßreduzierte Wirtschaftssystem, das vielerorts auch während der Arbeitszeit diverse Hobbyaktivitäten tolerierte, legte ungeahnte Vitalreserven frei.

Dabei gehörten die tschechischen Parteikader lange zu den schärfsten und ideologisch strengsten im Ostblock — und den sichtbar treusten. Das Prager Stalindenkmal, das einige hundert Meter von meinem Haus entfernt stand, war das größte der ganzen Welt. Und wenn auch die Slänsky-Prozesse zu einem Symbol für den kommunistischen Terror wurden, mordete man nach 1948 in viel größerem Ausmaß lieber ohne Öffentlichkeit — bei Verhören, nach geheim abgehaltenen Prozessen oder in den unzähligen Arbeitslagern. Aber auch später in den sexualisierten Zeiten meiner Jugend gehörte Todesgefahr zum Alltag — allerdings die Gefahr eines neuen sozialistischen Typs. Die historische PragerBausubstanz wurde irgendwann so marode, daß abstürzende schwere Simse oder ganze Balkone immer wieder auf Passanten herabfielen und manche auch erschlugen. Auf den Bürgersteigen lief man deswegen nicht gern an den Häuserwänden entlang, man drängelte sich in der Nähe der Bordsteinkanten und ließ sich lieber vom vital werdenden Straßenverkehr bedrohen.

Im Grunde kann es einen nicht verwundern, daß das denkwürdige Jahr 1968 auch auf der höchsten Ebene, dem sogenannten Politbüro der kommunistischen Partei, ausgerechnet mit einem sexistischen Spruch eingeläutet wurde. Die hochwürdigen Genossen stritten sich im Dezember 1967 tagelang, gifteten sich an und konnten sich nicht einigen. Letzten Endes ging es um die Trennung von Funktionen und um die Neubesetzung des Chefsessels. Der bis dahin allmächtige Präsident Novotny wurde von dem jüngeren Lubomir Strougal, dem damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten, mit folgenden Worten attackiert:»DIESE MEINE HÄNDE HABEN VIELE FRAUENÄRSCHE GEHALTEN, AN IHNEN KLEBT ABER KEIN BLUT. «Daraufhin wurde bei der Anfang Januar abgehaltenen Plenarsitzung des Zentralkomitees — nachdem Novotny als erster Parteisekretär FREIWILLIG abgedankt hatte — der jüngere nette Alexander Dubcek in diese Funktion gewählt. Einmütig, wie es hieß. Dubcek war nicht so frauenbesessen wie Strougal. Er war vor allem — wollen wir jedenfalls hoffen — einigermaßen blutunbefleckt.

Mein alter Freund Petr Skopka war — was das Hobbytum betrifft — nie zu stoppen gewesen, und er bastelte auch als erwachsener Mann natürlich immer weiter. Als junger, noch studierender Ehemann baute er zu Hause harmlose, wenn auch erschreckend große Flugzeugmodelle. Und weil er nach einigen Konflikten mit der Macht, die auch wieder mit eher harmlosen Bastelaktivitäten zusammenhingen.letztendlich sogar oppositionell wurde, ging er nach dem Zusammenbruch von 1989 in die Politik. Eines Tages wurde er plötzlich Bürgermeister unserer wunderschönen Stadt Prag. Er, der Fliegenquäler, er, mein Mitschüler, dessen Vater einen bestialisch langen Penis besaß, derselbe Skopka, der einst mit seinen riesig vergrößerten Pin-up-Mädels einen ganzen Stadtbezirk — statt ihn zu besänftigen oder zu bilden — in Dauerunruhe versetzt hatte. Ich war stolz auf ihn und glücklich, daß er, gerade er und kein anderer an der Zukunft von Prag basteln durfte — und nicht nur manuell, sondern geistig und planerisch. Leider stolperte Skopka einige Jahre später — ausgerechnet Skopka — über eine schlichte Sexaffäre.