Ich persönlich wurde nie Zeuge eines Verbrechens, dafür erlebte ich einmal eine Art öffentlicher Hinrichtung auf dem Altstädter Ring, ausgerechnet in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der im siebzehnten Jahrhundert die Elite des Landes — Spitzen des böhmischen Adels und andere prominente Geistesgrößen, tschechischer wie deutscher Zunge — dezimiert wurde. 1621 ließen die Habsburger, die bei der Schlacht auf dem Weißen Berg gewonnen hatten, siebenundzwanzig edle Herren evangelischen Glaubens köpfen. Dem gelehrten Jan Jesensky — dem Rektor der Universität und Vorfahren von Milena Jesenskä — schnitt man als Erstes seine gelehrte Zunge heraus. Zum Strafkatalog der Habsburger gehörte außerdem eine beispiellose Vergewaltigung und religiöse Unterdrückung des ganzen Landes, es folgten Enteignungen von gigantischen Ausmaßen. Die erwähnte Schlacht von 1620 war für mich, der in Prag 6 aufwuchs, immer präsent. Der Weiße Berg lag nur einige Straßenbahnhaltestellen entfernt, und bei allen Ausflügen in die westliche Richtung mußte man an diesem ehemaligen Schlachtfeld vorbeifahren. Bei der jetzt zu schildernden Szene — etwa dreihundertfünfundvierzig Jahre nach dem gegenreformatorischen Aderlaß — ging es nur um das Abschlachten einer einzigen Frau.
Prag der sechziger Jahre — und was dort an Brutalität noch möglich war! Die Situation, wie sie sich mir anfangs bot, war im Grunde vollkommen harmlos. Die Hinzurichtende wollte nichts anderes als eine oder zwei Wassermelonen für ihre Familie erstehen, ganz gewöhnliche Wassermelonen — außen grün, innen rot. Zuckermelonen gab es bei uns damals so gut wie nie, wegen dieser hätte es sichvielleicht gelohnt, einen Menschen umzubringen. Aber wegen einer Wassermelone? Um die zu erzählende Geschichte zu verstehen, muß man eins wissen: Wenn es in Prag Wassermelonen gab, dann gab es sie nur ganz kurze Zeit. Der Einmarsch der Melonen erfolgte immer nur überfallartig, geschah ohne jegliche Vorwarnung. Wenn diese grünen Kugeln irgendwo im Süden Mährens oder in der Slowakei gereift waren, ergossen sich bald ganze Berge von ihnen — wie von Naturgewalten der wäßrigen Zellteilung getrieben — in die Stadt. Diese Ströme wurden dabei nur unzureichend kanalisiert. An geeigneten oder wenig geeigneten Orten wurden volle LKW-Fuhren abgeladen und beim Straßenverkauf an den Mann und die eine oder andere Frau gebracht.
Schon beim Aufbauen der Verkaufsstände bildeten sich lange Schlangen. Die Menschen hatten ja Zeit. Der Verkäufer am Altstädter Ring, wo ich gerade unterwegs war, benahm sich schon im Vorfeld des großen Ereignisses laut und war voller Lebens- und Geschäftsfreude. Und weil er so beeindruckend extrovertiert war — im Sozialismus war diese Art schamlos positiver Prachtlaune im Straßenbild eine Seltenheit — , blieb ich stehen und bewunderte sein gekonnt inszeniertes Schauspiel eine Weile. Daß ich so lange stehenblieb, hatte aber noch einen anderen Grund: Ich hatte die Vorahnung, daß der Mann plante, in großem Stil zu betrügen. Seine gute Laune erklärte ich mir mit seiner Vorfreude, an diesem Tag noch reicher zu werden, als er es sicher schon war. In der Tschechoslowakei gab es zwar fast gar keine privaten Geschäfte mehr, Gemüseverkäufer gehörten aber — neben den schon erwähnten Fleischern und Kneipiers — zu denen, die doch ihren heimlichen Privatschacher betreiben konnten. Daß diese Leute nicht nur den Staat, sondern generell alle betrogen, also auch ihre Kunden, war ein öffentliches Geheimnis. Der massenhafte Melonenverkauf bot einem Bereicherungsprofi zusätzliche und schwer kontrollierbare Freiräume. Die Passanten waren sogierig nach den Melonen, so beseelt durch die Vision der baldigen Glücksexplosionen daheim, daß sie zu irgendwelchen Kontrollmaßnahmen nicht fähig waren. Ihre trockenen Mundschleimhäute machten sie denkschwach. Für die staatlich organisierte Melonenbescherung hatte man sowieso dankbar zu sein. Dem unersetzbaren Verkäufer im Grunde auch.
Das Spektakel begann — und ich hatte mich nicht geirrt. Der Mann betrog relativ offen, er schien auf seine Unverschämtheit fast stolz zu sein. Er schmiß die Melonen auf seine Waage, und lange bevor sich die Anzeigenadel beruhigen konnte, schrie er schon den frisch errechneten Preis laut über den Platz. Vielleicht irrte er sich manchmal auch leicht nach unten, das war aber eher zu bezweifeln. Wie eine Intelligenzbestie im Kopfrechnen sah er nicht aus. Er quatschte zwischendurch fröhlich mit den Kunden — und wie geschossen schrie er mitten in seinem Gerede schon die nächsten Phantasiezahlen. Er wurde immer lauter, seine Stimme donnerte über den halben Altstädter Ring. Widerspruch war bei dieser Bombenstimmung absolut nicht möglich. Alles mußte sowieso ganz schnell gehen, die Schlange war lang und breit. Alles lief friedlich und freundlich ab — bis zu dem Zeitpunkt, als sich eine Frau traute, die Richtigkeit des ihr genannten Preises höflich in Frage zu stellen. Der Preis komme ihr seltsam vor, und es hätte eventuell sein können, daß es sich um einen kleinen Irrtum handelte. Der Mann blieb kurz sprachlos, starrte die Frau an. Sie wiederholte ihre Bitte, den Preis ihrer zwei Melonen neu zu berechnen. Sie wolle nur genau wissen, wie dieser zustande gekommen war.
Der Mann erholte sich und lachte endlich laut auf. Er schmiß die eine der beiden von der Frau ausgewählten Melonen noch einmal auf die Waage, dann die zweite — und präsentierte den neuen Preis. Der Gesamtpreis war jetzt tatsächlich um einige Heller niedriger — ein fairer Kompromiß, hätte man meinen können. Um jegliche kopfrechnerische Kontrollen irgendwelcher Schlaumeier zu stören, multiplizierte und addierte er noch einmal alles laut nach, er tat dies in hohem Tempo und voller Erregung. Immerhin öffnete er seine betriebsinterne Buchhaltung für alle, jeder konnte»überprüfen«, wie er auf die neue Zahl gekommen war — auch die arme Frau. Sie gab sich trotzdem nicht zufrieden und weigerte sich zu zahlen. Ihr Pech war, daß die Ungeduld in der Schlange wuchs und sie von dort keine Unterstützung erwarten konnte.
— Hören Sie gut zu, junge Frau, ich habe den Preis korrigiert! Haben Sie das kapiert? Sie halten alle auf!
— Es kann nicht stimmen, tut mir leid. Wenn ich es überschlage — fünf mal drei und… und so weiter, komme ich höchstens auf fünfzehn. Ich konnte Ihnen bei dem Tempo nicht folgen.
Der Verkäufer schmiß vor Wut beide Melonen auf einmal in die Schale und bespuckte die Gewichte auf der gegenüberliegenden Plattform seiner angerosteten Zungenwaage — von seiner guten Laune war nun nichts mehr zu spüren. Er multiplizierte den Kilopreis in doppelter Lautstärke und in zwei getrennten Rechenstufen neu, und siehe da — er hätte sich vorhin beinah selbst betrogen. Er hatte beide Male viel zu wenig berechnet!
— Danke, danke für die Nachhilfe, junge Frau, es war viel zu wenig! schrie er triumphierend. Ich habe mich zweimal zu Ihren Gunsten vertan!
Die Masse war durch die Dramaturgie der Szene so beeindruckt, daß die neue Multiplikation ohne Widerrede als korrekt hingenommen wurde. Niemand konnte sich zu diesem Zeitpunkt trauen, dem Marktmathematiker Paroli zu bieten. In meinem Kopf war es sowieso schon schwarz vor Wut, ich hätte keine Zahl festhalten, geschweige denn mit ihr operieren können. Für die Frau war der neue Preis ein schwerer Schlag. Sie war schockiert und begann, laut zuweinen — dabei hatte sie sicher auch ihre um die Melonen so gut wie betrogenen Kinder vor Augen. Und der Verkäufer schlug nach, wurde immer höhnischer, rechnete der Frau noch einmal und noch einmal vor, wie sie ihm Unrecht angetan und ihn beinah arm gemacht hätte. Alle sahen dieser Demontage zu, ich, der Frauenbewunderer und zukünftige Beschützer auch. Ich war nicht nur vollkommen sprachlos, sondern auch viel zu jung, um gegen den Mann antreten zu können. Damit hatte ich diese öffentliche Hinrichtung — eine Art mittelalterlicher Entehrung — leider zugelassen, zugelassen wie alle anderen. Erst im Nachhinein malte ich mir immer wieder aus, was ich hätte tun, wie ich der Frau hätte helfen können. Ich hätte vortreten müssen, mir das ermittelte Gewicht aufschreiben sollen — und dann den Preis in aller Ruhe auf einem Zettel ausrechnen können. In dieser Zeit hätte der Schwindelverkauf weitergehen können.