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Das Drama ging dann noch weiter. Der von jeglicher Schuld entlastete Verkäufer begann, die Frau zu beschimpfen und sich als Anwalt der wartenden Masse aufzuspielen. Er höhnte über den mathematischen Unverstand der Belästigerin — und er konnte mit seinen Tiraden auch bei dem inzwischen wieder angelaufenen Verkauf seiner Melonenberge nicht aufhören. Die Frau tat zum Glück das einzig richtige — sie fiel in Ohnmacht und knackte hart auf die Pflasterung der Hinrichtungsstätte. Einige umstehende Passanten — nicht ihre Gegner aus der Schlange, die ihre Warteposition hätten verlieren können — trugen sie zu einer Bank und legten sie hin. - Wir brauchen einen Arzt!

Wie ich später erfuhr, hatten pfiffige Gemüsehändler an ihre Waagschalen oft Schlaufen aus dünnem Draht angebracht. Eine solche Schlaufe hing unterhalb der Tischplatte, war gut getarnt und konnte bei Bedarf mit der Fußspitze belastet werden.

rücklings schob er sich wie eine dampfgetriebene Wühlmaus die gänge lang

Hoffentlich hat niemand kritiklos angenommen, mich — den naiv träumenden Georg — hätte tatsächlich eine schattenlose Zukunft, so etwas wie ein Kontinuum an Glück erwartet. Falls ich Anlässe zu derartigen Visionen geliefert haben sollte, tut es mir leid. Da mir böswillige Mitmenschen schon mal Täuschung aus niederen Motiven unterstellt haben, lasse ich mir in diesem Zusammenhang ruhig vorwerfen, ich hätte mich der etwas harmloseren Verklärung schuldig gemacht. Relativ unschuldig darf ich mich tatsächlich fühlen. Ich habe nie an konkreten Zukunftsplänen gebastelt und habe über sie daher auch nie berichten können — nicht in diesem Text, genausowenig mündlich. Über sie zu phantasieren hätte sowieso kaum Sinn gehabt, da meinem früh verfestigten Gefühl nach alles längst feststand — inklusive der ferneren Zukunft. Auch diese befand sich von Anbeginn an im lieferfertigen Zustand, war auf mich positiv eingestimmt — maßgeschneidert wie sie war — , und sie war natürlich einigermaßen hell, wie sie auch für jeden anderen Menschen auf der Welt zu sein hätte. Meine Zukunft war auf alle Fälle dazu da, sich eines Tages von sich aus zu entfalten, war immer schon dabei, auf mich in aller Ruhe zuzugehen.

In der Zeit, als das ganze Konglomerat meiner qualreichen Eigenarten in mir noch tiefer verborgen lag, sah ich im Gesicht wie weichgespült aus. Dank der wenigen von mir existierenden Fotografien kann ich jetzt mit Sicherheit sagen: Meine Frisuren waren nichts anderes als eine konsequente Serie von dämlichen Karikaturen. Meine möglichst grauen Anziehsachen waren mir meist nicht grau genug.unsichtbar war ich aber nicht. Ich hieß damals genauso wie heute, lange Jahre wollte ich aber unbedingt anders heißen. Auf keinen Fall Georg.

Ich hatte zwar immer fest an meine nicht zu befürchtende Zukunft geglaubt, ganz logisch war mein Glaube aber keinesfalls. So porenoffen, wie ich aufwuchs, hätte ich meine Zukunft niemals mit Freude erwarten dürfen. Zum Glück hatte sich mein seelischer Selbsterhaltungstrieb um keinerlei Logik geschert. Es reichte, mich leicht zu schütteln, Fußball zu spielen oder morgens anders aufzuwachen — und ich hatte alle Zweifel vergessen, war wieder munter und überaus fröhlich. Wenn meine düster drückenden Zustände trotzdem nicht restlos verschwunden waren, versuchte ich schnellstens, sie wenigstens von meinem Äußeren zu entfernen, sie wie die altgriechischen Schlammkämpfer mit ihren Schabeisen schichtweise abzukratzen. Als ich später — endlich und ehrlich — begann, mir wie ein unreines Wesen aus einer anderen Welt vorzukommen, half diese Oberflächenbehandlung leider nicht mehr. Meine Seele war mir immer wieder… die Qualität dieses Gefühls war punktuell erschreckend… meine Seele wurde mir eklig auf eine so eigenartige Weise, daß es mir nie gelang, auch nicht in der Zeit der Kulmination und der Zeit meiner ersten intensiven Schreibversuche, für diesen Ekel ein stimmiges Bild zu finden. Dann kamen noch meine unschönen Pickel hinzu. Ich bezeichnete mich manchmal gern als eine Eiterproduktionsanlage. Und mir ist jetzt schon klar, daß ich — um dieses Kapitel nicht zu überfrachten — noch einmal werde versuchen müssen, mir meine inneren Qualspiele anzusehen und die folgende Abhandlung aufzustocken.

Das größte Verbrechen in unserer Familie war das Lügen. Und obwohl ich nach den bei uns geltenden Anstandsregeln nie log, hatte ich immer das Gefühl, trotzdem in der Nähe von Todsünden zu leben, so auch in der unmittelbaren Nähe des Lügens. Ich mußte notgedrungen lügen oder beinahlügen, weil ich eben nicht in der Lage war, das, was sich plötzlich doch bewußt in mir regte, nach außen zu kehren. Und ich durfte es auch auf keinen Fall tun, nicht einmal eine unfröhliche Andeutung davon sollte nach außen dringen. Ich schaffte es als Kind — unzählige Jahre, einfach so lange, bis die Dinge nicht mehr aktuell waren und bis aus ihnen Scherze geworden waren — , auch enorm wichtige Wünsche und enorm wichtige Forderungen zu unterdrücken; falls ich überhaupt wußte, was ich mir hätte wünschen oder was genau ich hätte fordern sollen.

Erst nachdem ich meine saftige Schambegabung entdeckt hatte, wurde mein Innenleben etwas greifbarer. Meine Scham darüber, wer ich eventuell war, brachte die geistige Wende. Was mit meiner Scham belegt war, begann ich mir konsequent zu merken und versuchte, es nicht nur roh zu speichern, sondern es auch ansatzweise zu deuten. Schämen konnte ich mich immer besser, zum Glück wieder vollprofessionell und unauffällig.

Mein Leben wurde für mich irgendwann zur Hölle, und ich wußte genau, wo sich in Prag der Einstiegsbereich zur Hölle befand. Wenn man das Tor der berüchtigten psychiatrischen Klinik von Prag-Bohnice passiert hatte, konnte man sich nicht mehr verlaufen. Der Eingang zur Hölle befand sich irgendwo im Haus drei oder vier. Nachdem ich in der Grundschule überraschend einmal eine Fünf im Diktat — also ungenügend — bekommen hatte, sagte zu mir ein Mitschüler, der später Spitzenkoch in einem Hotel auf dem Wenzelsplatz wurde:

— Wenn es mit dir so weitergeht, Georg…

Weil ich mit meiner Mutter manchmal Bekannte besuchen mußte, die in der Irrenanstalt von Bohnice festsaßen, wußte ich tatsächlich, wohin man sich als eine gescheiterte Existenz zu wenden und wohin man unter Umständen zu verschwinden hatte. Beruhigend war dabei, daß der dortige Chefarzt zum Bekanntenkreis meiner Mutter gehörte.Meine Talfahrt setzte nicht gleich nach dem mißglückten Diktat ein, viele Jahre später kam sie aber tatsächlich und vollkommen folgerichtig in Gang. Diese Talfahrt hatte viele Phasen, hinterließ einige gruselige Sedimentschichten — und ich konnte, wenn ich wollte, jederzeit auf sie zurückblicken. Die Entdeckung meiner tiefsitzenden Unsicherheit fiel ausgerechnet in die glückliche Blütezeit meiner Clique. Meine Verzweiflung darüber meldete sich erst vorsichtig an, ich begann aber allmählich zu ahnen, daß sie nicht dabei war, gleich wieder abzutauchen oder zu schrumpfen, sondern vielmehr ins Kraut zu schießen. Mein unsicherer Seelendreck machte sich in mir besonders dann breit, wenn ich meine so souveräne und mich schützende Bande nicht um mich hatte, wenn ich also auf den Straßen und Plätzen meiner schönen Stadt auf mich allein gestellt war. Zum Auslösen einer Verzweiflungsattacke reichte dann irgendeine komplizierte Begegnung oder Begebenheit. Warum mußte ausgerechnet ich miterleben, wie eine Frau wegen zwei Melonen auf die Pflastersteine umgehauen wurde? Warum mußte ausgerechnet ich dazu begabt sein, Menschen, die ich traf, so aufzuweichen und aus ihnen IHRE hartnäckigsten Unsicherheiten so gnadenlos herauszukitzeln, daß sie sich möglicherweise silagieren lassen wollten? Dabei hatte ich sie oft kurz zuvor noch beobachtet, wie sie mit anderen gescherzt und gelacht hatten — in meinem Beisein stotterten sie dann plötzlich, wurden rot, kippten ihre Augen pausenlos nach unten, verstummten schließlich wie abgewürgte Pulsadern und überließen es mir, mich für ihr Unglück schuldig zu fühlen. Schon während der gemeinsamen Quälerei haßte und verfluchte ich mich, ließ braune Kröten aus den verrücktesten Verstecken wie Helikopter aufsteigen, schoß gnadenlos Kanonenkugeln auf unschuldige Dritte ab und federte den Rückstoß mit meinem flachen Brustkorb ab. Offenbar forderte ich von mir und von meinen Begegnungspartnern eine Art von Ehrlichkeit, die einige verschorfte.normalerweise ausreichend geschützte Grundwunden zum Platzen brachte. Nebenbei spürte ich die ganze Zeit, wie sich in meinem Schlund zäher Schleim sammelte — so daß in mir schließlich auch eine fette Kröte festsaß. Eine Kröte, die sich dringend auf eine Flugbahn — eine eher ballistische — begeben wollte, um sich ihren feuchtbodenstämmigen Verwandten anschließen und sich mit ihnen paaren zu können. Wenn ich wieder allein war, beneidete ich beispielsweise ebenmäßige Grasflächen um ihre natürliche Stille — was noch die friedlichste aller möglichen Abschlüsse, die idealste aller zu phantasierenden Auslaufzonen war.