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Anfangs — sagen wir in meiner Bettnässerzeit — vermehrten sich die in mich zu Hause eingepflanzten… wie hätte ich sie damals nennen sollen? ich hatte nicht einmal die primitivste Fachterminologie zur Verfügung… vermehrten sich die in mir lauernden Vorhöllenwürmer nur langsam, nach und nach verbündeten sie sich aber miteinander und verkrallten sich in meinem aufnahmebereiten Fleischsein, verhakten sich in allen meinen Muskelfasern, Gefäß- und Darmtraktwindungen so gut, daß sich in mir eine regelrechte seelische Kloakenwirtschaft — an solchen frei kreierbaren Termini mangelte es mir nie — herausbilden konnte. Eine Affinität zum Unglück besaßen bei uns zu Hause sowieso alle — allerdings auch Fähigkeiten, mit dem eigenen Unglück einigermaßen zivilisiert umzugehen. Positiv daran war, daß ich von klein auf nicht nur die unterschiedlichen Arten der Verzweiflung, des Umgangs mit der Verzweiflung vor Augen hatte, ich konnte nebenbei auch die seltsamsten Varianten des Unglücklichseins miteinander vergleichen. Wenn auch viele der Strategien meiner Nächsten etwas sonderbar waren, man brachte sich bei uns wenigstens nicht um. Man machte weiter, beschäftigte sich Tag für Tag mit egal wie lächerlichem Kleinkram, stolperte eben von Hindernis zu Hindernis, bis es einem wieder besserging. Die Tanten sprachen über ernste Angelegenheiten meistens deutsch miteinander und verwendeten dabei überdurchschnittlich oft das Wort» Verzweiflung«. Ich war allerdings nicht gezwungen, ihre Verzweiflung besonders ernst zu nehmen. Einerseits sollte ich ihre auf Deutsch geführten Gespräche nicht unbedingt verstehen, andererseits hatte ich mir das Wort» Verzweiflung «falsch übersetzt. Ich wunderte mich nur, wieso die Frauen andauernd (typisch!) so viele ZWEIFEL hatten, warum sie also dauernd an allem knabberten und zweifelten.

Ich hatte tatsächlich keine Chance, ein ausgeglichenes Leben in einer wenigstens tendenziell zur Harmonie neigenden Umgebung zu führen. Die aus vielen Quellen gefütterten Verrücktheiten meiner Tanten hätten auch viel kernigere Männer hochkomplexe Neurosen entwickeln, dauerhaft gräßlich schiefe Nervenwurzeln schlagen lassen. Meinen Onkel ONKEL — dieses Beispiel ist plastisch genug — hatten sie in eine schwere Internierungsneurose getrieben. Hätte er sich gewehrt! Hätte er es gewagt, und egal wie kulturlos! In dem Fall hätten für mich — als greifbares Anschauungsmaterial — wenigstens einige Brosamen von rudimentären Kampftechniken abfallen können. Kernig war dieser Mann leider nur wenig mehr als ein Weichei. Er hatte oft einen bestimmten Blick, der mich bis heute bei allen möglichen» Kerlen «rasend macht: Dieser Typ Mann — in der Regel war er früher Berufsoffizier unserer Volksarmee… Dieser Typ Mann — der Zivilwildnis nun schutzlos ausgeliefert — täuscht gern vor, über etwas tiefsinnig nachzudenken, wobei ihm aufgrund der leergefegten Anspannung um die Augen anzusehen ist, daß in seinem Gehirn die totale Windstille herrscht. Das ist jetzt aber eine irreführende Abschweifung — ich will auf etwas ganz anderes hinaus: die mich belastenden Einflüsse wurden mit der Zeit nicht weniger, sondern mehr. Die tantenseitigen Verhaltensmacken führten zur Neu-Induktion weiterer Abnormitäten onkelseits — und diese hatte ich zusätzlich zu verkraften, wie auch diejenige, die ich außerhäuslich aufgelesen hatte. Das war mein Alltag, ich kannte nichts anderes, ich kannte es nicht anders. Und wenn sich labilisierte Individuen — ich meine meine Tanten — eine schiefe Normalität zusammenbasteln, dann ist es eben ihre Normalität. Wenn kaputte Lebensläufe kreativ fortgesetzt werden, dann ist es eine legitime Fortsetzung dieser Lebensläufe — egal, ob dabei neue gemütshinkende Geister gezüchtet werden. Damit meine ich mich. Wie glücklich alle Trittbrettgeister, die zur familiären Vorgeschichte gehörten, tatsächlich gewesen waren, ist irrelevant. Ich hielt fast alle diesbezüglichen Familienlegenden vorsichtshalber für wahr. Daher waren alle möglichen Familienmitglieder — ob sie nun glaubhaft ins Positive verzerrt waren oder nicht — wenigstens dazu prädestiniert, für immer meine zum Glücklichsein einladenden Leitfiguren zu bleiben.

Alle unsere bei uns herumtorkelnden Erinnerungsverwandten schlichen an mir wie betatschbare Lemuren vorbei. Und sie wirkten oft plastischer als einige meiner wirklich noch atmenden Nächsten — agiler zum Beispiel als meine Kellertante Peprl. Diese vegetierte wie unter Tage des Alltags, lebte im Grunde in einer Art Vestibül der Unterwelt. Und als ich einmal aus den Ferien nach Hause kam, war sie tatsächlich verschwunden. Als sie noch lebte, führte ich sie einmal in den Park und hatte sie beim Fußballspielen vollkommen vergessen. Beim Einbruch der Dunkelheit war sie auf ihrer Bank leider nicht mehr zu sehen gewesen.

— Peprl ist gar nicht zu Hause.

— Sie ruht sich bei mir aus. Georg hatte sie im Park vergessen.

Aber auch einige der überirdisch siedelnden Frauen — beispielsweise Urtante Bombe — bewegten sich in einer Realität, die meßtechnisch nur schwer zu erfassen gewesen wäre. Ideologisch lebte sie sowieso eher auf einer Insel wie Kuba.vergaß in ihrer Sonderzone sogar die Pflicht zur familiären Solidarität. Als Mutters teure italienische Pumps mit schmalen goldfarbenen Absätzen nach zwei Tagen auseinanderbrachen, freute sie sich leise. Für sie war es nur ein weiterer Beweis für die Sinnlosigkeit der kapitalistischen Ausbeutung, ein Beweis für den unausweichlichen Untergang dieses Wirtschaftssystems. Manche dieser Atmenden watschelten herum, hatte ich das Gefühl, wie in einem Versuchslabor mit stark veränderter Gravitation. Die Vergangenheit gärte und blubberte bei uns hinter jeder Tür und jedem Vorhang. Aber wir gestalteten unsere Sorgen um die Gegenwart und Vergangenheit trotzdem so lebendig wie nur möglich. Daß bei diesem ewigen Wiederkäuen des Vergangenen trotzdem vieles vollkommen unverdaut blieb, kann man getrost annehmen.

Ich will mich unbedingt davor hüten, über die Zustände bei uns zu Hause zu richten und nachträglich nur klugzuscheißen. Ich war ein Teil des Ganzen, ich ließ mich zum familienbraven Wiederkäuer und Wiederbeleber bereitwillig aufziehen. Das bei uns aus Preußendeutschland — sicherlich via Wien, also dank des Österreichischen Rundfunks — angekommene Wort» Vergangenheitsbewältigung «verstand ich lange nicht. Noch lange Zeit nach dessen Auftauchen empfand ich dieses BEWALT- & (VER)WALTUNGS-Wort als einen Griff in ein noch leicht dampfendes Häufchen. Die Tanten hatten über dieses Wort gelacht, als sie es zum ersten Mal gehört hatten. Wenn gute Devisen aus Deutschland im Anmarsch waren, lachten wir später über das Wort Wiedergutmachung. Wir freuten uns über dieses Geld aber trotzdem außerordentlich — und gaben es so schnell wie möglich aus.

— Wieso keine Rollschuhe?

— Die sind zu teuer. Vielleicht das nächste Mal.

Das nächste Mal gab es dann aber nicht. Zu den vermeintlichen, am Anfang des Kapitels angesprochenen Irreführungstendenzen hinsichtlich meiner Zukunft muß ich noch eines anführen: Hinter dem Glauben an meine glückliche Zukunft stand und steht kein nachträglich beschlossener Beschönigungswille. Ich hätte nicht behaupten können, ich hätte inmitten von Frohsinn gelebt, wenn es nicht auch wahr gewesen wäre. Ich wuchs tatsächlich inmitten von Fröhlichkeit auf, und diese gab es bei uns dauernd zu hören, zu tasten und zu riechen. Beim Essen auch zu schmecken. Fest steht allerdings, daß ich in unserem nahrhaften Haushumus viel zu lange steckenblieb. Bei uns gehörten Enge und Nähe zur vertraglich zugesicherten Pflicht, der Umgang miteinander hatte etwas von einer Dauerumarmung. Dieses Aneinanderkleben und Klebenbleibenmüssen störte uns Kinder, egal, mit wie vielen Rezeptoren wir übersät waren, keineswegs, wir stellten nichts dergleichen in Frage, gingen keiner Tante aus dem Weg. Aus diesem Grund war ich am Puls aller anderen wirklich nah dran; egal, ob die dazugehörige Gefühlsfärbung transparent war, benannt worden war oder nicht — und ob lächelnd vorgebracht oder nur gedämpft froh. Lächelnd oder sogar strahlend wurde bei uns selbstverständlich auch über die Umgebrachten gesprochen. Außerdem war es überhaupt nicht wichtig, ob die einzelnen Unglücke fünfzig, dreißig oder erst zwei Jahre zurücklagen. Die dazugehörigen historischen Daten, Gesellschaftsordnungen, Kriegs- und Friedenszeiten wurden dauernd durcheinandergebracht, in unseren Kinderköpfen konnte auch längst vergammelte Geschichtssubstanz frisch wie ein knuspriger, mit Knoblauch und Majoran abgeschmeckter Kartoffelpuffer erscheinen.