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Großmutter Lizzy — meine Bettnachbarin — verlor im Jahre 1961 auf dem Weg von der Wäscherei einen Kissenbezug und weinte anschließend auch über ganz bestimmte körperliche Schmerzen aus dem Jahr 1916, die der österreichische Soldat Schornstein, ihr Ehemann, bei seiner Verwundung im Ersten Weltkrieg ertragen mußte. Nachdem das Wäschestück von einer Nachbarin auf einem Zaun entdeckt, an den Initialen erkannt und uns gebracht worden war, klaffte bei uns die Wunde am Unterkiefer meines Großvaters trotzdem noch weiter. So war es aber in Ordnung, die Intensität meiner Nächsten entsprach mir voll und ganz. Wenn dieselbe Großmutter Lizzy wegen eines fürchterlich dummen Zufalls oder fatalen Fehlers, der ihr am 1.11.1942 passiert war, immer noch litt, litt ich eben strahlend mit. Sie hatte damals auf die Reise nach Theresienstadt ihren Wecker mitgenommen, was — warum auch immer — streng verboten war. Und sie konnte es sich bis zu ihrem Tod nicht erklären, wieso der Wecker an diesem ersten November und ausgerechnet bei der Gepäckkontrolle zu läuten begann. Der erste November war — ein Zufall oder nicht — der Todestag ihres Mannes.

Die spezifische Art der Vergangenheitsbewältigung, die bei uns praktiziert wurde, nahm nie ein Ende. Tante Klara und Tante Györgyi waren in der Grundschule in denselben ungarisch-jüdischen Jungen verliebt. Dieser floh mit seinen Eltern aus der Slowakei schon 1938 nach Palästina und war seit einer Ewigkeit verheiratet — weigerte sich aber hartnäckig zu verraten, welche von den beiden Mädchen er damals schöner gefunden hatte. Eigentlich wurde von ihm seit Jahrzehnten erwartet, endlich von seinen damaligen LIEBESGEFÜHLEN zu sprechen. Klara und Györgyi hätten über ihr Liebesdrama gern einen Roman geschrieben. Ich meine zwei — jede einen anderen.

In meiner Familie wurde mir infolge des allgemeinen Gefühlschaos — wie man sich denken kann — viel zum Staunen geboten. Und auch wenn ich manchmal nur wie ein stummer Statist danebenstehen und in meiner Verwirrung nicht nachdenken konnte, übte ich mich wenigstens im Studium von Details, speicherte nebenbei Gerüche von besonders exotischen Besuchern, imitierte zur Probe Zuckungen einer unter Stalin inhaftierten — also nach dem Krieg WIEDERinhaftierten — Dame, wunderte mich über die häßlichen Gesichtszüge meiner auf der Treppe heimlich weinenden Mutter. Wenn Herr Goldstücker kam, war seine Zeit als Parteihäftling kein Thema mehr, es gab viel wichtigere und vor allem aktuellere Dinge zu besprechen. Nicht nur ich — auch Eduard Goldstücker und meine Mutter blickten viel lieber nach vorn. Worauf ich hinauswilclass="underline" Man gönnte mir keine freie Minute, in der ich mich hätte langweilen können. Leider war ich damit nicht zufriedengefüttert, wurde vielmehr in jeder Beziehung maßlos. Wenn auch der Trupp aller unserer Haushysterikerinnen harmlose Aufregungen zu Großereignissen aufbauschen konnte, war es mir einfach nie genug. Ich weiß noch, wie ich Kinder aus kaputten Familien voller Geschrei beneidete, weil sie aus so bodenlosen und scheinbar noch viel interessanteren Verhältnissen kamen. Seelendreck, Verdorbenheit und Haßtiraden beispielsweise — so etwas kannte ich noch nicht gut genug, und ich hätte es gern auch zu Hause geboten bekommen.

In den offen destruktiven Familien gäbe es nicht nur andere und viel abstoßendere Dinge — handgreifliche Attacken beispielsweise — zu erleben, solche Familien hätten noch ganz andere Vorteile gehabt: Man hätte derartigen Ansammlungen von Idioten, Gewalttätern und Drecksgnomen zur gegebenen Zeit viel einfacher den Rücken kehren und diese Leute ihrem Schicksal überlassen können. Man hätte auf einen Schlag den Schlußstrich ziehen können. Das kam bei uns dagegen nicht in Frage, so etwas durfte man nicht tun. Dazu waren die Mitglieder meiner Familie zu reizend und die bei uns vorhandenen kohäsiven Kräfte viel zu stark. Die meisten waren an ihrem Unglück ganz und gar unschuldig, waren äußerst verletzbar und gaben ihre Schutzlosigkeit offen zu. Mein Onkel, der in seiner Schutzzone außerhalb — so gut wie außerhalb — jeden Mitgefühls vegetierte, konnte an meinen diesbezüglichen Hemmungen nichts weiter ändern.Im Nachhinein kommt mir unsere Schutzgemeinschaft wie ein großer Kindergarten vor. Diese späte Sicht auf das damalige Durcheinander verdanke ich, ehrlich gesagt, meiner Frau. Die meisten Erkenntnisse über meine Familie wurzeln in den frechen Sprüchen, die aus dem schamlosen Mund dieses hinzugekommenen und so anders gearteten fraulichen Wesens kamen. Meine Frau schaffte es sogar, die bei uns längst gefällten und hundertmal bestätigten Urteile über den Onkel ONKEL umzustoßen: ER HATTE BEI DIESER FRAUENÜBERMACHT DOCH KEINE ANDERE WAHL, ALS SICH EINZUMAUERN. Sie scheute sich von Anfang an nicht, im Sinne der Seelenhygiene beschämende Wahrheiten auszusprechen, und meinte beispielsweise eines Tages eben: IHR SEID HIER ALLE NOCH WIE KINDER, GEORG! Nun bin ich aber so geknetet worden, wie ich geknetet worden bin. Und daran, daß ich etwas kindlich geblieben bin, konnte meine klarsichtige Frau auch durch jahrelanges Hinterfragen nicht viel ändern. Ebensowenig konnten es unsere vollkontaktreichen Beziehungskämpfe.

Bei uns zu Hause herrschte Wildwuchs, Sonderlichkeit gehörte zur Norm, und alle Macken, auch Breitbandmacken, waren erlaubt, wenn auch nicht flächendeckend beliebt. Unsere Entwicklung und unser Weiterkommen überwachte kein Oberhaupt, kein gerechter und weiser Herrscher. Uns allen wäre aber auch mit dem besten Coach von außen nicht zu helfen gewesen, denke ich. Wir waren so etwas wie ein generationsloser Sonderbrei. So gesehen war es sicher kein Zufall, daß ich auch im sonstigen Leben besonders solche Originale schätzte, die aus der Art fielen, mit psychischen Auffälligkeiten Punkte machten, von anderen Parallelgenossen auf Anhieb zu Ekelpaketen abgestempelt wurden. Ich persönlich schätzte meine Tanten als schwer erziehbar ein. Im Gegenzug empfanden die Tanten mich als durchaus vollkommen.Zu den Begeisterungsprofis zählte natürlich auch meine Mutter. Sie schwärmte für dieses und jenes, immer wieder mit der unverfälschten und wie neugeboren-neuerwachten Frische einer Heranwachsenden. Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie, wie sie auf jedem Schritt mit initiierenden Erlebnissen konfrontiert wird — und nicht aufhören kann zu staunen. Dahinter stand vielleicht die grenzenlose Dankbarkeit dafür, daß sie tagtäglich den gewöhnlichen Nachkriegsalltag überhaupt genießen durfte. Meine Mutter kam immer wieder mit leuchtenden Augen nach Hause und erzählte irgendwelche Ungeheuerlichkeiten, Sensationen oder Anekdoten. Sie fand es konsequent, daß einer ihrer Kollegen seinen bei einer Redaktionssitzung kritisierten Artikel einfach aufgegessen hatte. Einmal konnte sie sich kaum beruhigen, als sie erfuhr, daß ein Junge, den sie gekannt hatte und der irgendwann vor dem Krieg seinen eigenen Urin getrunken hatte, nach dem Einmarsch der Deutschen tatsächlich Nazi geworden war. Fast jedes Jahr brachte meine Mutter die ersten Frühlingsknospen irgendwelcher Büsche mit nach Hause und betete sie wie Vorboten eines großen Weltwunders an. Und wir waren beide frühlingsglücklich, wenn wir den — angeblich auch Steine ansteckenden — Aufbruch der Natur nicht verschlafen hatten.