Eines Tages baute er dann seine Befestigungsmauer und ließ für die Allgemeinheit nur einen schmalen Gang frei. Die Lösung war denkbar einfach: Er rückte die Schränke von der Wand ab, so daß ihre häßlichen Rückseiten diesem neu entstandenen Korridor zugewandt blieben. Manche der Schränke drehte er dagegen andersherum — dabei bekam zwar er ihre Rückseiten zu sehen, konnte aber sein Bett, seinen Schreibtisch und seinen heiligen Sekretär dort heranrücken. Praktischer ging es gar nicht. Der neue Korridor wurde später mit Wandleuchten bestückt, und diese konnten mit Wechselschaltern ein- und ausgeschaltet werden. Den Eingang zu Onkels eigentlichem Innenbereich bildete ein schwerer, eine übriggelassene Lücke füllender Vorhang, den niemand gern anfassen mochte. Wenn die Sonne nachmittags ums Haus kam und der Onkel seine Pfeife rauchte, sah man von ihm nur die dicken Rauchwolken oberhalb seines Bollwerks.
Dunkel kann ich mich noch an eine sicherlich viel zu spät anberaumte Verhandlung erinnern, bei der es um seine eigenmächtige Zerschlagung dieses» Festsaales «ging.
— Und wenn wir mal ein größeres Fest ausrichten möchten, was dann?
Was daraufhin geschah, prägte sich mir für immer ein. Mein Onkel war nicht dumm, er hatte alles bedacht. Er stand auf, lehnte sich gegen einen der Schränke und schob ihn mit Leichtigkeit an die Wand. In schneller Abfolge tat er das Gleiche mit zwei weiteren Schränken, wir wichen den fahrenden Kolossen aus und schwiegen. Die Gewalttätigkeit dieses massereichen Treibens war beängstigend. Einen vierten Schrank, der an Onkels Bett stand und dessen Türen zum Gang zeigten, drehte er auf dem glatten Parkettboden geräuschlos um hundertachtzig Grad und schaffte ihn auch aus dem Weg. Wie wir sehen konnten, hatte er unter allen Schrankfüßen große weiche Filzstücke befestigt.
— Bitte, sagte er dann, wen wollen wir einladen?
Alle wußten aber längst Bescheid: In seinem Zimmer würde nie ein Fest gefeiert werden. Und so war es dann auch.
Mein Onkel wurde einerseits — also tantenseits — zur Bedeutungslosigkeit degradiert, andererseits war er daran auch selbst schuld. Er wehrte sich oft nicht, und man hatte eher das Gefühl, er sei mit dem Abschied aus der Klammer der Großfamilie durchaus zufrieden. Den alltäglichen Familienbetrieb hielt er sich sowieso eigenmächtig und dauerhaft vom Leib — physisch mit dem dreckschweren Vorhang, seine eigentliche Nebelkanone war allerdings sein Fernsehapparat, der lange Zeit auch der einzige in der gesamten Wohnung war. Mit Hilfe dieses röhrenglühenden Monstrums verschwand mein Onkel gern vollständig in den ihm vorgegaukelten Welten und befand sich gleichzeitig auf einem sehr einsamen Vorposten. Nebenbei stand er dort als unser medialer Filter seinen Mann. Anfangs mußte er mit einem einzigen Fernsehprogramm auskommen — erst später kam ein zweites hinzu. Er brauchte im Grunde niemanden. In seinen vier, streng genommen zwei eigenen Wänden erschuf er sich mit der Zeit eine so geheimnisvolle Realität, daß sogar meine beiden Cousinen — es waren seine Töchter — sich zu ihm wie zu einem Fremden verhielten. Beim Konsumieren des Fernsehprogramms tat Onkel ONKEL so gewichtig, daß ich immer das Gefühl hatte, er wäre von großartigem Wissensdurst getrieben und würde sich vor dem Bildschirm gezielt auf neue umwälzende Großprojekte vorbereiten. Ich glaubte weiterhin an ihn — jedenfalls in handwerklicher Hinsicht. Wenn man ihn durch den Spalt seines Vorhangs ansprach, an dem eine kleine Glocke hing, rief er immer laut: — Psst! Nicht! Jetzt nicht! Sei still!
Wenn der Onkel von der Arbeit nach Hause kam, ging er als erstes zu seinem Fernseher und schaltete ihn ein. Während das Röhrengerät warmlief, zog sich Onkel ONKEL seine Hose aus und füllte seine Pfeife. Onkels journalistischer Beruf war anstrengend, verantwortungsvoll und vielschichtig. Er war der alleinherrschende Chefredakteur, der stellvertretende Chefredakteur, der verantwortliche Redakteur und die Sekretärin in einer Person, und die Fachzeitschrift für Energetik, Energiewirtschaft und Energiepolitik, die er vollkommen allein redigierte, las bei uns niemand. Für niemanden von uns hatte sie je etwas bedeutet. Außerhalb unserer Familie schien diese Monatsschrift außerdem vollkommen unbekannt zu sein. Trotzdem dürfte man meinen Onkel ohne weiteres als Karl Kraus der Energetik, Energiewirtschaft und Energiepolitik bezeichnen, denke ich. Obwohl ich zugeben muß, daß ich ihn nie im Leben an einem einzigen Artikel in Manuskriptform habe arbeiten sehen.
Eine ganze Weile nach dem Einschalten zeigte Onkels Fernseher die ersten beweglichen Bilder und lief und heizte dann ohne Pause bis zum Schlafengehen. Das Einstiegsmodell war noch riesig, der winzige Bildschirm wirkte darin wie ein Guckloch. Mit der Zeit wurden Onkels Bildschirme selbstverständlich immer größer. Weil er ein von der Technik begeisterter Mensch war, kaufte er in den Folgejahren grundsätzlich alle Neuentwicklungen, die der sozialistische Elektronikbetrieb TESLA herausbrachte. An diesem Ausgabenposten sparte er nicht.
Sein Ritual beim Zuschauen blieb jahrzehntelang unverändert. Er legte seine weichen weißen Beine auf seinen selbstgebastelten Nierentisch, rauchte dabei seine Pfeife und trank seine oft selbstkreierten Gesundheitsliköre und Kräuterschnäpschen. Ab und zu kommentierte er erregt das Programm, und dank der zentralen Lage seines Zimmers wußten über seine Gemüts- und Meinungslage jedefrau und jedermann Bescheid. Mit dem» jedermann «bin ich gemeint. In Onkels Schrankmauer gab es anfangs noch kleine Ritzen, durch die man ihn beobachten konnte. Als er diese nach und nach abdichtete, blieben uns allen nur noch links- oder rechtsseitige Durchblicksmöglichkeiten an seinem Eingangsvorhang übrig.
Als junger Mann muß mein Onkel noch ausgesprochen lebendig und witzig gewesen sein. Eva, seine zukünftige Frau, war von ihm ganz hingerissen. Und sie wollte ihre Begeisterung auch mit ihrer Mutter teilen. Nachdem sie ihn das erste Mal mit nach Hause genommen hatte, fragte sie:
— Wie findest du ihn, sag mal.
Dieser Mann wird später dick oder krank — oder beides, meinte Lizzy trocken.
Den Mann, der mein Onkel war, nahm man nie wirklich ernst — hinter seinem Rücken sprach man von ihm wie von einem Trottel — , trotzdem hatten auch die stärksten meiner vielen Frauen eine Heidenangst vor ihm. Ich war ihm als Kind natürlich hoffnungslos unterlegen. Zwischen ihm und den Frauen, die als Clique unbesiegbar waren, gab es eine Art Waffenstillstand. Pro forma wurde jedenfalls so etwas wie ein Gleichgewicht simuliert. Gegenüber seiner Frau Eva hatte Onkel ONKEL allerdings gewisse, wenn auch nur beschränkte Vollmachten. Zum Beispiel durfte er sie zwingen, sich vor die Glotze zu begeben und gemeinsam mit ihm bestimmte Sendungen abzusitzen. Tante Eva, die nicht in der Lage war, sich von ihm scheiden zu lassen, bewohnte ein bescheidenes Nordostzimmerchen, das sehr weit von der Wagenburg entfernt lag. Wenn sie von ihrem Gebieter, meinem Onkel, zu einer Fernsehsitzung gerufen wurde, kam sie, setzte sich hin und widersetzte sich dem Terror dergestalt, daß sie sofort einschlief. Nach der Pflichtsendung mußte sie sich noch einige Vorwürfe anhören und durfte dann wieder gehen; manchmal wurde sie als eine Ignorantin schon während der Sendung verjagt. Und sie las dann fleißig die halbe Nacht fremdsprachige Bücher, weil sie eine gebildete Frau war, sieben Sprachen sprach und relativ wenig Schlaf brauchte.
Manche Seltsamkeiten waren für uns Kinder nicht weiter verwirrend, wir waren einiges gewöhnt. Mit schwer verdaubaren Eindrücken und unlogischen Informationsbrocken versorgte uns vor allem die Urtante Bombe. Urtante Bombe war in Wirklichkeit keine Tante von mir; das» UR «war in ihrem Fall sowieso nur ironisch gemeint. Sie wurde eher zwangsläufig zu dem, was sie war, weil sie in unserer Wohnung schon seit dem Kriegsende wohnte — länger als ich. Ihr Status und der Grad ihrer genetischen Assoziierung mit unserer Familie wurden nie ganz geklärt. Da aber auch die fast verwandtschaftlichen Beziehungen bei uns schon eiserne Verpflichtungen mit sich brachten, kam es nie in Frage, ihr Zimmer zu beanspruchen und sie auszuquartieren. Auch während eines ihrer Auslandsaufenthalte blieb ihr Zimmer ihr Zimmer. Schwer zu sagen, ob diese Urtante ein Glück oder Unglück für mich war. Dank ihrer überstarken Präsenz wußte ich lange nicht, in welcher Zeit und welchem Land ich eigentlich lebte. Und auch nicht, in welche Richtung die Moldau floß. Oberhalb des Altstädter Wehres stand das Wasser relativ ruhig, und die Wellen bewegten sich je nach Windrichtung mal mit, mal gegen den Strom.