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— Fließt das Wasser nach links oder nach rechts?

— Siehst du das nicht? Nach unten! sagte sie und zeigte nach oben — also in die südliche Richtung.

— In Budapest war alles anders. Großzügiger, fast wie in Wien, meinte sie nach einer Weile.

Die von mir etwas später angefertigten Stammbäume der beiden Familien — also unserer und der von Urtante Bombe — berühren sich in ferner Vergangenheit an zwei offengebliebenen Stellen; und zwar ausgerechnet in Budapest, wo seit dem Krieg nur noch einige kontaktscheue Reste der Familie festsaßen. Von diesen ignoranten Menschen, die sich — das ist kürzlich bei einer Nachfrage mein Eindruck gewesen — längst schon als ungarische Nationalisten fühlen und reine Sozialneid-Antisemiten geworden sind, wird man leider nichts mehr erfahren können. Die Urtante kam als» displaced person «nach Prag, und ihre Zugehörigkeit zu uns gründete sich sowieso nicht auf irgendwelchen verwandtschaftlichen Klarheiten. Sie war vor dem Krieg die Geliebte eines Anwalts gewesen, der ein Arbeitskollege meines noch vor dem Krieg verstorbenen Großvaters war. Nach dem Krieg versuchte Urtante Bombe bei anderen Verwandten in der Deutschen Demokratischen Republik unterzukommen, kehrte aber bald wieder zurück und wirkte etwas verwirrt. Und war noch kommunistischer geworden. Als ich sie später einmal nach den Möglichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung ausfragte, Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik zu empfangen, sagte sie resolut:

— Aber das tut man nicht, das tut man einfach nicht.

Auf alten Fotos haben meine vielen Tanten trotz ihrer Unterschiedlichkeit oft einen ähnlichen Gesichtsausdruck: sie sehen etwas vorsichtig in die Ferne und lächeln dabei leicht. Urtante Bombe bildet hier eine absolute Ausnahme. Ihre aufgerissenen Augen sind immer voller Schreck — wie vor einer jederzeit zu befürchtenden Bombenexplosion. Dabei war sie als Sozialistin grundsätzlich voller Glauben an die Zukunft.

manchmal stürzten ganze Vorhangsysteme zu boden

Daß meine private Zukunft sich zwischen den Nippeln und Spalten der fraulichen Neozoikallandschaften abspielen würde, schien mir mehr als natürlich zu sein. Und da auf mich diese Vorstellung nie beunruhigend gewirkt hat und ich kein feingeistiger Dichter geworden bin, bin ich beim Verschriften der Liebesthematik, beispielsweise auch beim Behandeln spezieller Stichworte wie VORFREUDIGE SAFTVULVA, Beihodennullbeitrag, ZERHEULTE ROTZE, Pollution verschmähten Bulbourethral-Schleims, VERPILZTE VORHAUT, Abschiedsausfluß und einiger anderer, um größere Geschmacksverbrechen herumgekommen — ich hoffe es jedenfalls. Zum Glück hatte ich aber auch nie das Bedürfnis, mir wegen meiner Nippel-, Hügel- und Spaltenphilie übertrieben viel Jubel abzupressen. Nebenbei bin ich sowieso ein Gegner jeder ernstgewuchteten Poesie geworden, und mein Schädel füllt sich seit meiner Kindheit mit dunkler Leere, wenn ich gedichtartige Wortgebilde zu sehen oder zu hören bekomme. Kein Wunder! Der junge Georg wurde durch die Fernsehsendung» Das sonntägliche Sträußchen der Poesie «tief furchig traumatisiert. Ein an ein Klavier gelehnter Schauspieler sagte zehn Minuten lang mit unsäglichem Pathos schwülstige Reime auf, und die ganze Nation — nicht nur Georg — litt, weil jedermann auf den ausländischen Spitzenspielfilm der Woche wartete.

Die Naivität, mit der ich alle möglichen auf mich einwirkenden Kraftfelder und mich durchschreitenden Enersiequanten ertragen habe, kommt mir im Nachhinein erschreckend vor. Da ich mir in der Schule ein Schema über die für die Wetterbildung hauptverantwortlichen Luftströmungen nicht sphärisch vorstellen konnte, gab ich es irgendwann auf, mich mit den Gründen für Wetterveränderungen zu befassen. Ich wußte einfach nicht, warum es — unabhängig von der Sonnenstrahlung — draußen manchmal viel kälter oder wärmer war, als beim Blick durchs Fenster zu erwarten gewesen wäre. Ich nahm das Wetter über dreißig Jahre lang einfach hin — bis ich einiges endlich anhand von Satellitenbildern begriff. Ähnlich naiv betrachtete ich die psychischen Dispositionen meiner Mitmenschen — und schätzte ihre seelische Aussteuer als etwas ein, das jeder im fertiggebackenen Zustand geliefert bekommen hatte. Und da die jeweiligen Seelen ganz offensichtlich nicht mehr umgebacken werden konnten, nahm ich beispielsweise an, jeder wäre gezwungen, auch mit seinen ihm untergeschobenen Macken für immer auszukommen — möglichst auf der Basis eines Stillhalteabkommens. Lüfte bliesen, Substanzen verteilten sich, Energien flossen — oder flossen nicht. Wenn zu uns bestimmte Menschen kamen und laut klagten, war mir seit dem Sabberalter intuitiv klar, daß den meisten von ihnen nicht zu helfen war.

— Wieso kommt aus mir nie Kunst heraus, wenn ich etwas aufschreibe? jammerte ein bekannter Journalist wiederholt bei uns.

Ich mußte mich glücklicherweise nie darum kümmern, was aus mir später herausströmen wollen würde. Ich konnte ruhig warten, bis sich die für mich bestimmten Überraschungen konkretisieren würden. Daß zähfließende Schmiersubstanzen oft üble Flecke hinterlassen konnten, beschäftigte mich meine ganze Kindheit überraschenderweise auch noch nicht. Für einen erwachsenen Mann und Familienvater, wie ich heute einer bin, ist eine solche Lässigkeit kaum vorstellbar. Dabei lassen sich manche Flecke überhaupt nicht entfernen, ohne die Substanz und Struktur des Fleckträgerstoffes zu beschädigen. Ein ungünstig plazierter Fleck kann eine ganze Hose ruinieren, einen grauenhaften Besucher auf einem farb-aktiven Fußbodenbelag verewigen, einer Seele einen Schlachtstempel aufdrücken. Wann habe ich begonnen, die oben genannten und mit ihnen verknüpften Dinge in mir zu ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen? Der Georg von heute, der nach der Kindergartenzeit auf den Toiletten Mittel- und Osteuropas vierzig Jahre lang falsch — das heißt im Stehen — gepinkelt hat, weiß es leider nicht.

— Georg, Georg, Georg! hallte es von überall. Dauernd ging es nur um Georg — trotzdem ließ man den Armen oft nur wundzappeln.

Wie unterschiedlich die Stellung eines fraulichen Beckens zu ihrem übrigen Körper — zum Rücken, zu den Schultern und Schenkeln dieser oder der daneben stehenden Frau sein kann! Wie unterschiedlich sich dadurch die Wölbung eines Hinterns gestaltet! Und die Festigkeitsunterschiede der darin verborgenen Grundsubstanz! In welchem Alter ich angefangen habe, meine wertvolle Zeit mit diesbezüglichen Beobachtungen zu vertrödeln, kann ich mich ebenfalls nicht erinnern. Auf jeden Fall recht früh, und leider gibt es auf dieser Bahn, wie ich jetzt weiß, für Menschen wie mich irgendwann kein Zurück mehr. Wenn man einmal anfängt, edle Gender-Studien der heiligen Ärsche zu betreiben, rutscht man zwangsläufig immer tiefer in diese Saftgrube, wird man als zukünftiger Invulvator kettenhündisch auf Dauer involviert, und es ist anschließend egal, ob man sich mit der aktuellen Rutschbahnbeschaffenheit im Sinne der Forschung beschäftigt oder unterwegs nur ungläubig staunt. Wie richtungsstrebig man sich nebenbei auch zu winden versucht: Man bleibt im Zentrum des Themas trotzdem verfangen, bleibt ihm sozusagen treu. Ist es etwa ein Geheimnis, daß jede Frau ihr ORGAN DER MITTE auf jedem Schritt und Tritt bei sich trägt? Steigt die gefühlte Temperatur des weiblichen ZENTRALORGANS aus dem Grund scheinbar immer nur an, weil sich ihm dieses — vom Bewußtsein des jeweiligen Forschers gut abgeschirmt — gern im Dunkeln seines Schädelinneren nähert, überhitzt wie ein Kleinkind nach dem Einschlafen? Die Vorstellungsgewaltigen unter den Männern sehen das frauliche Zentralmassiv zwangsläufig pausenlos vor ihrem inneren Hodenauge, stellen sich die Doppelwülstchen, welche die vakante Mitte links und rechts umranden, räumlich vor, hören fast, wie diese Doppellippen bei den Bewegungen der Schenkel, also bei jedem Schritt in einen leisen Massagevorgang verwickelt werden und dabei manchmal sogar zirpen — vom Schmatzen würde ich hier nicht gern sprechen wollen. Auch dieser Text wird zwangsläufig keinen anderen Weg nehmen können als den durch den Haupteingang. Und jetzt Posaunensalven, bitte! Schon der Einstieg bei derartig massiver Sogwirkung und bei so viel Überzeugungskraft — und der folgende allumfassende orgasmusnahestehende Erstkuß! Wen kann es dann verwundern, daß man gleich nach dem anfänglichen Innenkontakt im vulvalen Feuchtkanal von Großmut durchflutet wird und am liebsten ausrufen möchte: Seid umschlungen, Millionen! Oder — bodenständiger — etwas wie: Seid umschlungen, Millionen gelobter Eicheln! In wie viele Phasen meine private Gefühlsachterbahn auch einzuteilen wäre, ich würde sie in diesem Text nicht nur alle gern benennen, sondern die einzelnen Zeitsegmente unbedingt auch chronologisch sortiert sehen. Ich würde daran aber sicherlich scheitern. Soll sich beim Lesen jeder sein eigenes Zeitschema zusammenbasteln — und jeder ein anderes, von mir aus. Ich kann sowieso jedem nur raten, sich auf die natürlichen Gezeiten seiner faunischen Weichteile zu verlassen. Ich ließ die Dinge beim Schreiben auch einfach fließen und überließ den Rest dem zuverlässigen Selbstheilungsdrang, den auch jede andere, einigermaßen lebendige Körpermasse besitzt. Daß ich dabei einige abgekapselte Altfurunkel aufgerissen, einige Ritz-, Riß- und Widerhakenwunden frisch produziert habe, bestreite ich nicht. Nur keine Jahrestage feiern, nur keine Gedenkveranstaltungen organisieren, bloß nicht irgendwelche Zeit-, Übersichtsoder Bildtafeln aufstellen. Einmal sah ich von weitem eine Gedenkveranstaltung, die im Freien stattfand. Es war im kalten Januar, es ging um die Befreiung von Auschwitz. Auf eine Leinwand wurden hintereinander gräßliche Schwarzweißfotos projiziert. Natürlich die bekannten Berge von Brillen, Schuhen und Haaren. Es kamen auch Skelette, Goldfüllungen und Gebisse an die Reihe. Als die Gebisse die Szene eroberten, taten sie es ausgesprochen dynamisch. Es kam eine Brise auf, die Leinwand wellte sich leicht — und die Gebisse begannen, leise zu kauen. Der Wind wollte sich partout nicht legen, und so kauten danach sogar auch die steifen Oberkiefer der benachbarten Schädel aufeinander, auch in den Bildern der Leichenberge begann sich plötzlich das Leben zu regen. Schnell weg, sage ich nur. Und laßt mich — liebe Leute — bloß nicht weiter geschmacklos faseln. Natürlich ist es bedauerlich, wie reduziert ich mich den meisten Menschen in meinem Leben gezeigt habe — mit angesetzten Brustzwingen und festgezurrten Herzbanderolen, gezähmt, wie ich nicht bin. Was Nähe und Sympathien betrifft, bin ich auf extrem-elliptischen Bahnen oft in Schräglage geraten, oft durch Geschmacklosigkeiten eigensinniger Wahlbrüder beseelt worden. Was blieb mir auch anderes übrig, als mich im Verborgenen mit vorbildhaft verdorbenen Menschen — gleichzeitig den Meistern ihrer egomanischen Befreiung — zu umgeben. Der ehrliche ALWAYS-MERRY-AND-BRIGHT-Henry, der treuherzige Henry Miller — der zarte, weiche, liebevolle Chronist seiner Kindheit in Brooklyn, gehört dazu. Dieser angebliche Leichtbau-Antisemit im Kreis seiner jüdischen Freunde, dieser verbindliche, seriell monogame Rennrad-Enthusiast, der mit seiner jüdischen Schicksalsbraut June sein Leben lang beschäftigt blieb. Eine Tania gab es in seinem Leben auch. Jedermann sollte seine Alltagsschwere mal ablegen und bei Henry etwas dazuzulernen versuchen. Die wichtigste aller Übungen: Die OVARIEN von Geliebten WEISSGLÜHEN zu lassen. Und dann nichts wie ab auf die bereits angeschwollene Ovarienbahn, um dem Meister kurz in die Augen zu schauen. Wenn auch Henrys Tania in Wirklichkeit Bertha hieß und nicht Selbstmord beging wie meine, sind wir trotzdem Verwandte. Und wir hatten in einem Punkt beide Glück — wir haben im Leben keine lächerlichen Gegner erwischt. Leider ist der apolitische Henry in einer ganz anderen Welt aufgewachsen als ich, und seine mit ihm nie zufriedene Mutter war aus einem mir mehr als fremden Kalkstein gehauen. Wenigstens gefiel Henry das sowjetische Eine-Meinung-sonst-Handzerquetschen-und-Herzraus-Regime auf Anhieb nicht. Und wenigstens versuchte er im Jahr 1938 den zweiten Weltkrieg zu verhindern, indem er einen Marsch von französischen Kriegsversehrten organisieren und sie massenhaft zu Hitler schicken wollte — sie sollten möglichst bis an die tschechoslowakische Grenze marschieren. Henry litt oft Hunger — ich nicht, er ließ sich von einigen seiner Frauen schlecht behandeln — in meinem Leben gab es keine solchen KREUZIGUNGEN IN ROSA. Was einem die sozialistische Stabilität gab, diese Art Zukunftssicherheit ohne Eigenbeteiligung, darüber kann Henry in der Realität nicht das Geringste erfahren haben. Immerhin war seine erste langjährige Sexpartnerin Pauline etwa um zwanzig Jahre älter als er. Diese Konstellation glich fast der von mir und Dana.