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In meinem Land stolperte man mit den Augen an jeder Ecke über die Losung» MIT DER SOWJETUNION AUF IMMER UND EWIG«- für ewige Zeiten, hieß es im Tschechischen. Darüber hatte man sich nicht zu wundern, und man wunderte sich darüber auch nicht. Und daß man bei allen Revolutionen erst einmal massenhaft Menschen umbringen mußte, gehörte zu jedermanns Grundwissen seit der Grundschule. Im Sozialismus gehörte alles allen, und mir wurde erst viel später klar, wie geprägt ich vom Gefühl des gemeinsamen Schicksals aller fortschrittlichen Völker, auch vom Gefühl des gemeinsamen Eigentums, gewesen war. Straßen, Straßenbahnen, Gullys, Laternen, die farbigen kleinen Pflastersteine der Gehwege, Bäume, Sträucher und Singvögel — das alles gehörte auch mir. Wenn eine Straße zu viele Schlaglöcher bekommen hatte, wurde sie irgendwann neu asphaltiert. Wenn man Löcher in den Strümpfen hatte, stopfte man sie wieder mit Stopfgarn — Stopfgarn und Nadeln gab es in den sozialistischen Geschäften fast immer zu kaufen. Wenn die Stopferei anschließend familienintern erledigt wurde, bezahlte man dafür selbstverständlich keinen einzigen Heller. Und da ich das Stopfen beim Handarbeitsunterricht in der Schule gelernt hatte und diese Fertigkeit nicht verlieren wollte, stopfte ich meine Strümpfe oft selbst — ebenfalls umsonst, versteht sich. Wenn aber der Staat seine eigene Straße gestopft haben wollte, mußte er dafür, wie ich zufällig einmal erfuhr, eine Firma — seine eigene Firma wohlgemerkt — BEZAHLEN. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als diese derartig unanständige Transaktion in meine Welt einbrach.

Dafür, was ich in diesem Text meiner Mutter und den anderen Toten antue, werde ich auch noch bezahlen müssen. Die Schwere meiner Schreibvergehen wird nicht nur in meiner etwas unanständigen Heftigkeit zu suchen sein. Ich war im Laufe dieser meiner Aufgabe gezwungen, auch einen Teil meiner politischen Loyalität — meiner Mutter und ihren ehemaligen Gefährten gegenüber — aufzugeben. Alle diese Leute mehr oder weniger konsequent zu verraten, könnte man sagen.

Unsere Wohnung wurde optisch — auch wenn bei uns niemand übernachtete — von penetrant gemusterten, meist sehr bunten Vorhängen beherrscht. Diese sollten irgend etwas abschirmen, verdecken, vereinheitlichen, im Grunde aber auch verschönern — meist mit Hilfe von großflächigen Blumenmustern. Mein heutiger politischer und sonstiger Geschmack formte sich wahrscheinlich als Teil einer allumfassenden, vor allem aber auch ästhetikgestützten Rebellion. Ich rebellierte gegen fast alles, was mich zu Hause umgab, also auch gegen die in der Wohnung nicht ganz gleichmäßig, trotzdem reichlich verteilten Geschmacksverbrechen. Diese waren erdrückend, weil unser einziger Familienhandwerker Onkel ONKEL war — und Onkel ONKEL fand alles, was praktisch und billig war, zwangsläufig auch schön. Gleichzeitig benutzte er beim Bauen und Basteln mit Vorliebe gefundene, übriggebliebene oder einfach in Form und Beschaffenheit — also aus rein technischer Sicht — geeignete Materialien, die er dann kunterbunt in- und aneinanderfügte. Sein Ausbaueifer wurde leider viel zu spät eingedämmt und strengeren Kontrollen unterworfen. Und wenn es später den Kollaps seiner visionären Etagenheizung nicht gegeben hätte, hätte er vielleicht bis zum bitteren Ende gewütet, möglicherweise seinen eigenen Sarg mit bunten Zierleisten verunstaltet.