Unsere nicht zueinanderpassenden Schränke waren in puncto Stil, Alter oder Abnutzungsgrad zu unterschiedlich, um ein harmonisches Bild abzugeben; sie hatten es aber trotzdem nicht verdient, hinter derart dumm-heiteren Sichtblenden gehalten zu werden. Manche dieser Schränke waren — samt ihren Kratzspuren und Verletzungen — ausgesprochen reizend und hatten Charakter. Die meisten ihrer Wunden waren mit der Zeit sowieso dank Staub, dank eingesaugter Dämpfe und dank vieler Politurschichten längst geheilt. Dagegen konnte man hinter den gemusterten Stoffen nur ganz üblen bis abartigen Monsterkram vermuten, wenn nicht gar mumifizierte Leichen. Onkels Schrankmauer wurde natürlich auch verhangen — dort, wo sich viel Kleinkram befand, sogar doppelt. Im Zimmer eines meiner Schulfreunde standen ausnahmslos nur einfache alte Möbelstücke, die meisten aus weichem Holz — und sie waren mit der gleichen roten Ölfarbe bepinselt. Der nicht ganz fachmännische, nicht immer deckende Anstrich und die vielen Farbtränen gehörten dazu. Ich war begeistert und ging immer wieder hin, um diese mutige, zugleich auch einfach herzustellende signalrote Harmonie zu genießen.
Unsere Vorhänge waren nicht nur konzeptionell eine Katastrophe und ein großer Irrtum, sie hingen zu allem Unglück noch auf nicht ganz stabil angebrachten Stangen, Leinen oder Leisten, auf denen die sozialistischen, nicht immer leicht gleitenden Haken, Ringe beziehungsweise Rollen klemmten und sich stauten. Bei ruckartigen Versuchen, diese trotzdem zu bewegen und den gestauten Stoff gerecht zu verteilen, stürzten oft ganze Vorhangsysteme zu Boden. Daraufhin blickten einen die entblößten Schränke bitterböse an — wie alternde Frauen, die sich ihrer Körper bereits seit zwanzig Jahren schämen. Manchmal brachen bei den Abstürzen eingegipste Verankerungen aus der Wand, ein andermal wurden sogar irgendwelche Stützwinkel aus dem Edelholz der Schränke herausgerissen. An den metallischen Klang einer im Bad überdurchschnittlich oft kollabierenden Stange kann ich mich bis heute erinnern.
Vorhänge dienten bei uns manchmal auch als Ersatztüren einzelner Schränke, wenn ihr Schließmechanismus kaputt war oder ihre Scharniere bei Karussellspielen der kleinen Cousine endgültig nachgegeben hatten. Einmal sollten sogar auf meinen eigenen Wunsch die Türen zweier (wieder mal geerbter) Schränke, die ich nach der Rückkehr aus der Schule plötzlich in meinem Zimmer vorfand, durch Vorhänge ersetzt werden. Die durchfallgelb lackierten Arme-Leute-Ungetüme waren so häßlich, daß ich einen Verzweiflungsanfall bekam. Ihre Türen waren voller Zierleisten und vorgetäuschter Schnitzereien, außerdem hatten sie in der oberen Hälfte große verglaste Öffnungen; in das Glas waren Blüten und Blätterkreationen geätzt. Als ich am Wochenende nicht zu Hause war — ich absolvierte den üblichen Zwangsbesuch bei meinem Vater — , wurden die Türen entfernt. Die an ihrer Stelle vom Onkel angebrachten Vorhänge waren natürlich wieder geblümt. Zu verhindern war dies nicht — geeignete Stoffe waren bei uns immer vorrätig.
Mein und Großmutters Zimmer wurde danach noch häßlicher, und es konnte mich nicht trösten, daß in diesem Zimmer im Jahre 1948 eine ganze Weile die Baronin Nädhernä gewohnt und sogar in meinem zukünftigen Bett geschlafen hatte. Sidi war nach dem kommunistischen Umsturz und dem Verlust ihres Schlosses damit beschäftigt, ihre Flucht nach England vorzubereiten und wichtige Bücher, Dokumente und Schriftstücke — unter anderem auch Karl Kraus' Briefe, dieses» Meer an Liebe«- in Sicherheit zu bringen. Der Überlieferung nach rauchte die Baronin in meinem Zimmer so wild, daß sie sich dort wie zur Tarnung regelrecht einnebelte. Sie rauchte aber, mit dem Kopf halb hinter ihrem aufgeschlagenen Mantelkragen versteckt, auch auf der Straße, was damals eine Ungeheuerlichkeit war. Sie hustete viel. Baronin Nädhernä wurde bei uns übrigens nie deutsch» Nädherny «oder sogar (um die zwei Vokalstriche gebracht und auf der zweiten Silbe betont)
«Nadherny «genannt. Die» y«-Endung ist im Tschechischen männlich. Übrigens hatte Sidi ihren Namen während der Okkupation selbst verändert — also zu» Nädhernä«zurücktschechisiert.
In mein Zimmer ließ ich während meiner gesamten Kindheit nur ein einziges Mal einen Fremden eintreten. Der von mir ausgezeichnete Glückspilz hieß Petr Skopka; ich, der Unglücksrabe, hatte Geburtstag. Es war Anfang November, draußen war es äußerst ungemütlich, und die uralte mannshohe Gasheizung, die viel zu nah an meinem Bett stand, wurde wie üblich — vor allem aus Sicherheitsgründen — nicht angeworfen. Die Innereien des gußeisernen Monstrums waren verwackelt, und das Abzugsrohr war vom Onkel etwas experimentell angeschlossen worden — es führte von oben nach unten und verschwand in der Wand erst kurz oberhalb des Parkettbodens. Das Besondere an diesem Museumsstück war noch, daß man sein emailliertes Regulierungsrädchen mit den Ziffern 1, 2 und 3 einfach aufdrehen und den luftigen Kraftstoff auch vollkommen flammenlos strömen lassen konnte. Eine Heizung dieser Generation kam noch ohne ein Kontrollflämmchen und ohne jegliche bimetallische Sicherung aus.
Die Geburtstage wurden bei uns schon am Vorabend gefeiert, meistens erst spät nach dem Abendbrot. Ich wunderte mich darüber immer wieder. Diesmal war aber einiges anders. Die Geburtstagsfeier fand am Nachmittag statt, außerdem sollte irgendwann auch mein Vater vorbeikommen. Er kam tatsächlich, mit Skopka gab es aber schon nach kurzer Zeit einen Streit, dann einen verbissenen Kampf auf dem Fußboden, obwohl es in meinem Zimmer für einen richtigen Kampf nicht genug Platz gab. Irgendwie sollten wir uns in einer schmalen Schlucht zwischen den türlosen Schränken und einem riesengroßen, fast nie genutzten Eßtisch gemütlich ausbreiten und spielen. Gleich nach dem Ringkampf ging Petr Skopka, der von den meisten mit seinem Nachnamen angeredet wurde, wieder nach Hause. Zum Glück ist ihm wenigstens mein charmanter, gutgelaunter Vater positiv aufgefallen — und er erwähnte ihn in der Schule mehrmals. So gesehen war diese Testfeier ein Erfolg. Daß mein Vater an dem Tag — wie üblich — leicht angetrunken war, ging mir erst viel später auf.
Mein durch die zwei zusätzlichen Blumenschränke verunstaltetes Zimmer wurde nach dem Kampf mit Skopka für ein Jahrzehnt zu einer absoluten Sperrzone, und ich war erst in einer Notsituation wieder bereit, jemanden hereinzulassen. Der mit mir befreundete Glückspilz Nr. 2 war nur besuchsweise in Prag und mußte einen Abend irgendwo totschlagen. Wir saßen unbequem auf dem ehemaligen Bett der Baronin, als Tisch diente uns eine wackelige Platte, die lose auf einem wuchtigen Schiffskoffer lag. Den großen Eßtisch gab es nicht mehr. Dummerweise beschloß meine liebe Großmutter Lizzy, Sidis ehemalige Freundin, sich ausgerechnet an diesem Abend auch in» meinem «Zimmer aufzuhalten. Sie setzte sich auf ihr Bett, begann mit ihren üblichen Näharbeiten und empfand die Situation als vollkommen normal. Das Gespräch zwischen mir und dem Freund stockte, und mir wurde immer heißer im Kopf. Lizzy bekam unser Sprachwürgen gar nicht mit, da sie uns als eine gut erzogene Dame nicht belauschte.
Plötzlich bewegte sich mein verschwitzter und verkrampfter Freund etwas ausladender als erlaubt und streifte heftig einen der Schrankvorhänge. Ursprünglich sollten diese zwar nur die häßlich verzierten Schranktüren ersetzen, jetzt standen hinter ihnen aber noch — und nur provisorisch angelehnt — zwei zusammengeklappte Campingstühle. Die von mir nicht geliebten Sitzgeräte (»für deine Gäste…«) rächten sich jetzt und kippten scheppernd nach vorn. Mein Freund vermutete einen feigen Angriff aus dem Hinterhalt, ging in Deckung und schützte instinktiv seinen Kopf. Mich überraschten die Stühle nicht mehr, ihre Aluminiumfüßchen gerieten auf dem Parkettfußboden immer wieder ins Rutschen — allerdings erfolgten die üblichen Invasionen meist anders und sanfter. Die Stühle kamen einem meistens unterhalb des Vorhangs langsam entgegengerutscht, und man konnte sie dann mit einem gezielten Tritt wieder zurückdrängen. Ich stand auf und richtete die Stühle auf — als ihre Füßchen aber unten wieder zu rutschen begannen und ich mit Wut Vorhang trat, hielt es mein Besucher nicht mehr aus und ging. Ich sah ihn nie wieder.