Die Schar der fraulichen Wesen um mich herum wurde noch durch etliche, nicht bei uns wohnende Großmütter verstärkt. Manche von ihnen waren allerdings nur virtuelle Großmütter, weil sie enkellos geblieben waren. Bei diesen zusätzlichen und ausnahmslos großbusigen Wesen handelte es sich um die Mütter der geflüchteten oder verstoßenen Männer. Diese oft schon verwitweten oder eben alleinstehenden älteren Damen kamen, weil sie auf die lebenslustige und anziehende Gemeinschaft in unserer Wohnung nicht verzichten wollten. Sie schlugen sich logischerweise auf die Seite der Majorität und wetterten offen gegen ihr eigenes Fleisch und Blut, vor allem aber gegen ihre neuen Schwiegertöchter.
— Er war so ein süßer Junge! Leider ist er immer wieder an schlechte Freunde geraten — und jetzt an diese Frau.
Renata, die Mutter des Onkels, hielt sich, wenn es um ihren einigermaßen präsenten Sohn ging, mit Kritik selbstverständlich zurück. Die übrigen freundlichen Geschöpfe hießen Grete, Sidla und Ludmila, wobei die letztere eine echte Großmutter von mir war — der zu ihr gehörende Sohn war mein mißratener Vater. Alle diese Omas und Fast-Omas kamen zu uns in erster Linie natürlich wegen uns Kindern, wollten uns wachsen und reifen sehen, und sie wurden in der Reihe der großen Dreizehn alle schon einmal aufgezählt. Besuchsweise kam zu uns noch die in dieser Aufzählung ebenfalls vorkommende Zilli, die öfter aus ihrer Kleinstadt nach Prag reiste und bei uns dann einige Tage wohnte — bei extremen Wetterverhältnissen waren es manchmal Wochen, ihr Häuschen war etwas baufällig. Zilli war nicht — wie Tante Bombe — die ehemalige Geliebte eines Anwaltskollegen meines Großvaters Schornstein, sie stand auf der Wertskala bedeutend höher. Sie war die LEIBLICHE GELIEBTE dieses Großvaters und war eine kleine und wunderschöne Dame. Ihre edle Herkunft sah man ihr sofort an. Über meinen Großvater Schornstein muß man unbedingt folgendes wissen — er war in unserer Familie das präsenteste aller Phantome, obwohl er schon lange vor dem Krieg gestorben war. Er konnte zwar nicht mehr zum Leben erweckt werden, dafür hatte er genügend Zeit, wie mir oft versichert wurde, uns allen vom Himmel aus zuzusehen.
Zilly und ihre ehemalige Rivalin — meine Hauptgroßmutter Lizzy — verstanden sich prächtig. Zilly und Lizzy waren seit langem die engsten Vertrauten, die alten Wunden hatten sich sogar schon vor dem Krieg gewandelt oder verflüchtigt. Die beiden Frauen konnten sich stundenlang unterhalten, abendelang über die wunderbaren Extravaganzen und unerhörten Scherze ihres geliebten Mannes und genauso geliebten Liebhabers austauschen. In seiner Kanzlei hatte Joseph Schornstein nur stundenweise gearbeitet, möglichst nur vormittags. Dann ging er ins Cafehaus Royal, um seine Freunde, mitunter auch seine Frau zu treffen und mit ihnen allen seine Spaße zu treiben. Zum Skifahren in die Alpen fuhr er am liebsten mit seiner Geliebten — also mit der sportlicheren Zilly. Mit Zillys Ehemann ging er regelmäßig fechten. Die beiden Männer waren die besten Freunde.
Wenn ich in Gedanken durch die vielen Räume unserer Prager Wohnung streife, überkommt mich das Gefühl, daß es dort vor Lustemissionen pausenlos geflimmert haben muß. Egal, wohin ich ging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war. Ich wurde oft ungebremst und unkontrolliert von physisch spürbaren Glückswellen überflutet. Auch der wunderbare Duft dieser Frauen muß mich stark gemacht und geformt haben. Wie man heute genau weiß und farbfleckig illustrieren kann, unterlaufen gerade die Duftreize die großhirnrindliche Prüfinstanz, strömen ungefiltert in das limbische System und beschießen mitunter munter auch den Schwanz.
Die Schattenseite meines Erwachsenwerdens war dadurch vorgezeichnet: Außerhalb der Wohnung wurde ich vollkommen anders behandelt. Ich wurde mit giftigen Düften traktiert, mit steifen Gesichtszügen abgebügelt, mit verständnislosen Blicken in den Boden gestampft. Und wenn ich jemanden zu bedürftig anglotzte, konnte dieser böse Fremdling auch furchtbar feindselig werden. Ich hörte trotzdem nicht auf zu hoffen. Zum Ausgleich schmiß ich manchmal Steine in provokant wirkende Fensterscheiben.
Meine Bereitschaft zu lieben war mir sicher anzusehen, und ich wurde bei der ersten Gelegenheit, die sich anbot, und ohne daß ich die auf mich zukommende Gefühlseruption vorausahnen konnte, eines Tages zum Lustknaben erwählt. Es war bei einer Busfahrt, die vom Schriftstellerverband — dem Arbeitgeber meiner Mutter — organisiert worden war und bei der die aufgeweckte Jugend historisch wertvolle Burgen und Schlösser besichtigen sollte. Der Tag zog sich hin, die Besichtigungen waren langweilig, und wir entfernten uns immer weiter von unserer mütterlichen Großstadt. Die Rückfahrt war dann endlos. Auf den besten Plätzen — als diese galten selbstverständlich die auf der hinteren Sitzbank, weil sie von den mitfahrenden Erwachsenen am schlechtesten zu überblicken waren — versammelten sich einige geschlechtlich akzelerierte Mädchen, die das Pech hatten, keine adäquat entwickelten Jungs bei der Hand zu haben. Als es dunkel wurde, sprachen sie mich und meinen ebenfalls niedlich aussehenden Freund an und luden uns zu sich nach hinten. Dann legten sie los. Wir — klein wie wir waren — saßen abwechselnd auf den Schößen der liebeshungrigen und zahlenmäßig überlegenen Schriftsteller- und Lektorentöchter und wurden pausenlos bearbeitet — das heißt geküßt, liebkost, weitergereicht und zurückgezerrt. Es war unendlich schön, und ich hoffte, der Fahrer würde sich verfahren, nie wieder nach Prag zurückkommen und mein Glück, die unbeschreibliche Süße in meiner Brust, ewig andauern lassen. Die Mädchen eroberten vor allem meinen Kopf und meinen Mund, ich persönlich nahm mir vor allem ihre Oberkörper vor. Diese waren so wunderbar warm, außerdem fehlten ihnen die üblichen Angst-, Scham- und Schutzschranken. Meine Hände griffen bald nach den mir damals gewaltig vorkommenden Brüsten, und ich registrierte zum ersten Mal ihre Positions- und Konsistenzunterschiede. Die eigentliche Entdeckung war aber eine ganz andere: Kein einziges der Mädchen hatte etwas dagegen, dort so zielgerichtet angefaßt zu werden. Ich war voll und ganz in meinem Element, ahnte allerdings voller Unglauben, daß es doch eine Art Abschluß, ein grausames Ende und einen Zustand danach geben würde.
Die Erwachsenen unterhielten sich vorne und wußten die ganze Zeit von nichts — oder wollten von dem entfesselten Unzuchttreiben nichts wissen. Unter den anderen Kindern gab es dagegen etliche Neider, die sich immer wieder umdrehten und angeekelt mit den Köpfen schüttelten — wie es echte Spießer eben tun. Uns mit Liebe überschütteten Menschenkindern war das vollkommen egal. Mich versetzte die wilde Dauerverschmelzung mit den auch außer Kontrolle geratenen Mädchen in einen vollkommen unbekannten Ausnahmezustand. Von zu Hause aus kannte ich bereits einiges an Entzückung, eine derartige allerdings nicht. Sie stand mir aber — und zwar schon jetzt, nicht erst in der Zukunft — voll und ganz zu. Viel später wurde mir leider klar, daß die Mädchen an mir und meinem Freund das Küssen hauptsächlich nur üben, sich für viel wichtigere Einsätze vorbereiten wollten. Vor ihren geschlossenen Augen sahen sie sicher ganz andere Kerle vor sich.
Dieser Erlebnisabschnitt der Reise fing aber etwas anders an, fällt mir jetzt nachträglich ein. Eventuell wurde mein edelschöner Freund Michal als erster nach hinten entführt; vielleicht hatte er sich sogar — er war ein Draufgänger — selbst an die duftenden und auffällig zurechtgemachten Mädchen herangepirscht. Als ich mich wegen des von hinten verdächtig klingenden Gekichers umgedreht hatte, sah ich natürlich, was dort im Gange war. Diese Momentaufnahme taucht in meinem Erinnerungsnebel halbwegs deutlich auf. Wenn ich mich also nicht irre, habe ich mich dem lasterhaften Kreis aus eigenem Antrieb angeschlossen — und wurde zum Glück auch aufgenommen. Aber egal, wie es wirklich war — dabeisein war alles.