Gemäß den -menschlich auch mir höchst achtenswerten -Absichten der bestehenden Einrichtungen zur Erleichterung der Ausbildung Unbemittelter würde einem solchen bei Gewährung eines Stipendiums oder dergl. immer zu sagen sein: »_Du verdienst wegen deines Verhaltens oder wegen deiner Fähigkeiten, daß man dir zur Erlangung höherer Bildung und besserer Lebensstellung behilflich sei.« Im Sinne meiner Anordnungen aber müßte ihm vielmehr gesagt werden: »Du würdest wahrscheinlich glücklicher werden, wenn man dich in Ruhe ließe und in dem Stande, in welchem du geboren bist; denn dann würdest du, weil gescheiter als die Mehrzahl deiner Genossen, gegenüber deiner Umgebung von selbst einigen Vorsprung gewinnen und dann hinsichtlich des späteren Verhältnisses deiner Bedürfnisse zu den Mitteln für ihre Befriedigung und des Verhältnisses deiner Kräfte zu den Aufgaben, die dir zufallen, eines subjektiv größeren Überschusses dich erfreuen, als in einem höheren Lebensberuf meist der Fall sein kann. Aber -die Rücksicht auf das Gemeinwohl verlangt, daß man deine Kräfte für den Dienst von wichtigeren und schwierigeren Aufgaben zu gewinnen suchen muß, damit dieser Dienst nicht gänzlich angewiesen bleibe auf die allzu beschränkte Auswahl an über-mittelmäßigen Köpfen, die der Nachwuchs der Reichen für sich allein prästieren kann, usw.«
Die §§ 80, 81 markieren demnach, neben einer allem Eudämonismus abgewandten Lebensanschauung, den festen Standpunkt des Arbeitersohnes, dessen Vater nur mit größtem Widerstreben Wohltaten sich gefallen lassen mochte. Die Carl Zeiss-Stiftung soll also auch in diesem Punkt keine »milde« Stiftung sein.
Meine Ansicht ist nicht, daß eine Betätigung der Carl Zeiss-Stiftung in dieser Richtung, solange sie isoliert bleibt, gegenüber der Größe der Aufgabe eine nennenswerte praktische Bedeutung für das Gemeinwohl gewinnen könne. Was in diesem Punkt von einer einzelnen Stelle aus geschehen kann, wird immer »Tropfen auf einen heißen Stein« bleiben. Eine wirkliche Lösung kann das hier angedeutete soziale Problem erst dann finden, wenn einmal der Unterrichtsminister eines großen Staates begriffen hätte, daß es für das Staatsinteresse noch nicht genug ist, die nötigen vielen Millionen jährlich aufzuwenden, um höhere Unterrichtsanstalten aller Art auf bestem Fuß zu erhalten, sondern daß noch einige Millionen mehr dazuzulegen seien, um auch dafür geregelte Vorsorge treffen zu können, daß jene Anstalten just von denen benutzt werden müssen, an deren höherer Ausbildung allein dem Staat selbst etwas gelegen sein kann. Das würde besagen müssen: planmäßiges Heranziehen der höher veranlagten Köpfe aus allen Schichten des Volkes, nach Analogie der allgemeinen Wehrpflicht und der Rekrutierung für die Spezialwaffen zum Dienst der leitenden Funktionen im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben -behufs Erhöhung des durchschnittlichen Niveaus der ganzen geistigen Aktion des Volkes und behufs Beseitigung plutokratischer Kastenbildung in den Berufsständen. Dazu aber würde gehören, nicht nur sich hinwegsetzen zu können über den unvermeidlichen Mangel solcher Maßnahmen, daß dabei wegen der Schwierigkeit richtiger Auslese auch manches Mittelgut auf öffentliche Kosten zu erziehen wäre, sondern vor allem, sich nicht fürchten zu müssen vor den mancherlei einschneidenden Konsequenzen, welche eine Wiederaufhebung des allmählich entstandenen faktischen Bildungsmonopols der Wohlhabenden nach sich ziehen würde.
Solange es deshalb mit all diesem gute Wege hat, würde einem von der Carl Zeiss-Stiftung etwa gemachten Anfang immerhin Wert und Bedeutung des ersten guten Beispiels auf einem wichtigen Gebiet des allgemeinen Volksinteresses verbleiben.
Fußnoten:
[Fußnote 2: [Nach der Angabe Bebels in seiner Eröffnungsrede zum Jenaer Parteitag (1905) fand dieser Vortrag schon 1869 statt.]]
II.
Gedächtnisrede zur Feier des 50jährigen Bestehens der Optischen Werkstätte.
Gehalten am 12. Dezember 1896[3].
Hochgeehrte Gäste -liebe Freunde und Mitarbeiter!
In diesen Wochen sind es 50 Jahre geworden, daß aus allerkleinstem Anfang das Werk entstanden ist, das unter dem Namen von Carl Zeiss heute die Tätigkeit einer großen Zahl von Menschen in dauerndem Verein hält, ein wichtiges Element in der Wirtschaftstätigkeit unserer Stadt geworden ist und auch für manche Angelegenheiten allgemeineren Interesses einige Bedeutung gewonnen hat.
Da der Begründer dieses Werkes nicht mehr lebt, sonach niemand mehr da ist, der noch in seiner Person das Ende des 50jährigen Zeitabschnittes mit seinem Anfang verknüpfte und dessen Person so den Mittelpunkt einer festlichen Erinnerung bilden könnte, haben wir von jeder Art besonderer Feier abgesehen. Wir wollen den äußeren Markstein auf dem Weg unserer täglichen Arbeit, den man in dem Ablauf eines halben Jahrhunderts zu sehen gewohnt ist, lediglich zum Anlaß nehmen, auf diesem Weg einen Augenblick Halt zu machen und unsere Gedanken zu sammeln in einem Rückblick auf das hinter uns Liegende, und in dessen Betrachtung neue Ermunterung zu rüstiger Fortsetzung unserer Arbeit, neues Vertrauen auf ihre Zukunft suchen.
Die Geschichte dieser 50 Jahre enthält auch in dem sichtbar gewordenen Geschehen, in dem Fortgang der äußeren Entwicklung unseres Instituts wohl manches, was dem Gedächtnis aufbewahrt zu werden verdient - manches, was für die Nächststehenden, manches, was auch für weitere Kreise ein bleibendes Interesse hat, weil es entweder Merkzeichen gewisser Fortschritte bietet, oder typische Vorgänge der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung oder die Eigenart unseres besonderen Arbeitsfeldes exemplifiziert.
Meine Absicht hier geht indes nicht auf alles dieses. Was davon späterer Erinnerung festzuhalten angemessen erscheint, wird mein Kollege CZAPSKI demnächst in einer Darstellung der Geschichte unserer Werkstätte denen, die solches interessiert, zugänglich machen[4]. Meine Aufgabe hier sehe ich nur darin, zu erzählen von der inneren Geschichte unserer Anstalt, von den Gedanken und Bestrebungen, die in ihr lebendig und wirksam gewesen sind -also von dem, was aus dem sichtbaren Verlauf des Geschehens noch nicht ohne weiteres zu erkennen -was vielmehr, um dessen volles Verständnis zu vermitteln, nur der beibringen kann, der auch das innere Geschehen durch alle bedeutsamen Phasen seines Verlaufs persönlich miterlebt hat.
Man wird nun zum voraus gewärtig sein, daß in einem Gebilde menschlichen Schaffens, welches durch ein halbes Jahrhundert hin über mehrfachen Wechsel der Personen hinweg stetig in gleicher Richtung sich fortentwickelt hat, nicht nur das Resultat von äußeren Einwirkungen und von Antrieben der Umgebung vorliegen werde -deren fortwährender Wechsel in unserer rasch lebenden Zeit doch nur aus blindem Zufall eine konstante Bahn hätte ergeben können. Man wird also zum voraus vermuten, daß in solchem Gebilde etwas wirksam gewesen ist, was von innen heraus den Gang der Entwicklung bestimmt hat -eine durchgehende lebenskräftige Idee, vergleichbar dem entwicklungsfähigen Keim, aus welchem kraft innerer Anlage der Baum allmählich herauswächst, in seinem Wachstum nicht bestimmt, höchstens nur beeinflußt durch die Einwirkungen der äußeren Umgebung, fördernde und hemmende Umstände.
Was nun ist in unserem Fall der lebenskräftige Keim, aus dessen inhaltsreicher Anlage dieser große Baum entstanden ist |in dessen Schatten jetzt zahlreiche fleißige Menschen Obdach gefunden haben|? Was ist der treibende Gedanke, der die Entwicklung dieses Unternehmens geleitet hat?